Von Matthias Bosenick (15.06.2015)
Es bleibt dabei: Wer nicht in irgendeiner Form bereits vom Pratajev-Virus infiziert ist, hat vermutlich seine liebe Not, sich nachträglich vom Oeuvre rund um den fiktiven russischen Allroundhelden mitreißen zu lassen. Obgleich die beiden Initiatoren in der Genese des Pratajev-Universums sehr einfallsreich sind, zündet nicht jeder Gag, fällt nicht jede Übertreibung ins Fach Satire, bringt nicht jede Wiederholung einen vertiefenden Blick auf Details; zumindest für den Nicht-Fan nicht. Dem entgegen stehen kluge Aphorismen, nur scheinbar absurde Lyrik und angenehm hanebüchen gesponnene Geschichten, an denen man auch als Pratajev-Novize Gefallen finden kann. Als solcher liest man den achten Band mit Auszügen aus den jüngsten Begebenheiten rund um die Pratajev-Gesellschaft daher nur mit gemischter Freude, aber immerhin nicht ganz ohne.
Die Verwandtschaft zu „Arnold Hau“, den F.W. Bernstein, Robert Gernhardt und F.K. Waechter 1964 erfanden, ist einfach zu groß, um Pratajev vom Grundsatz her originär erscheinen zu lassen. Die Absurditäten, die Oley und Bröker ihrem Pratajev andichten, wirken bisweilen zu konstruiert, um den russischen Volksdichter qualitativ auf eine höhere Ebene als Arnold Hau zu stellen – jener beweist damit, dass er auch 50 Jahre später nichts einbüßt, an Aktualität, Qualität, Einfallsreichtum.
Da das Universum von Pratajev einerseits sehr eng gefasst ist, weil die biografischen Eckpunkte offenbar schon seit Jahren feststehen, geht des Dichters Welt nur noch im Detail in die Breite. In verschiedenen literarischen Gattungen erzählen Oley und Bröker dabei aus Pratajevs Leben, in Tagebuchform, Nacherzählung, wissenschaftlichem Bericht, und dies mit einer narrativen Stringenz, die die Anekdoten über das reine Witzdasein erhebt. Dabei zitieren die beiden Autoren nicht nur den Helden, sondern auch Wegbegleiter und Forscher, legen ihre Worte also mehr als einer Person in den Mund. Man erfährt von Pratajevs Zeiten als Karussellführer, im Gefängnis oder als säumiger Trinker, der seine Rechnungen in spontaner Zigarettenlyrik begleicht. Innerhalb der Betrachtungen gelingen den Autoren formidable Aphorismen und Metaphern, etwa „Habe mir die Nase blutig geschnarcht“ oder „Wo Familie ist, verschleißt jede Idylle sofort“.
In Pratajevs Universum setzen die Autoren wiederkehrende Landmarken, manche Begriffe tauchen in verschiedenen Konstellationen immer wieder auf: Rüsselhund, Biber, Katzen im Wind, Gelbschnaps, Froschbutter, Lurchschlipse. So schaffen sie einerseits den Eindruck einer Nicht-Beliebigkeit, aber damit, dass diese Begriffe zu sehr neben der Realität angesiedelt sind, nutzen sie sich in der ständigen Wiederholung ab. Mit einzelnen Erfindungen schießen die Autoren bisweilen zudem übers Absurditätenziel hinaus und erzeugen damit einen Pool an Abnutzungsbegriffen: Man staunt irgendwann nicht mehr, wenn neue Dinge wie Braunkohleveredelungsfabriken, mondsüchtige Tanzbären, Pfeifkesslerinnen, Käferzählerfeste oder Ledertrompeter erscheinen. Letzterer Musikant trägt dazu noch den sprechenden Namen Fanfarow, einer von vielen Namen dieser Art, wie auch Schizophrenow oder Rhedansk-Wydenbrykoswk (nur echt mit Tippfehler, in der Form taucht der vermeintliche Ortsname mehrmals auf), was der ganzen Sache leider die letztgültige Illusion des Möglichen nimmt.
Etwas verwirrend ist, welchen Status die Autoren Pratajev geben. Einerseits generieren sie ihn als vergessenen Nationalhelden, andererseits beschreiben sie ihn als lästig, nervig, egozentrisch, unbeliebt, und beide Sichtweisen sind gleichzeitig gültig.
Den Schluss der Büchleins nehmen Berichte aus der Pratajev-Gesellschaft ein. Die sind jedoch überwiegend für deren Mitglieder von unterhaltsamem Gehalt. So steckt das Buch zwar voll von Ideen und Geschichten, Lyrik und Humor, kann sich in seiner Gesamtheit dem Unbedarften aber nur bedingt als Vergnügen anbieten. Als Bettlektüre oder in der Straßenbahn ist es indes fantastisch geeignet und ausreichend unterhaltsam.