Von Matthias Bosenick (17.10.2023)
So versteckt ist das Orchester von Joe Acheson aus Edinburgh gar nicht: „To Dream Is To Forget“ ist mindestens das sechste Album des Hidden Orchestra seit 2010, und darauf ist auch die Musik nicht versteckt. Obschon das Projekt eher im getragenen Tempo operiert, verharrt es nicht in Stille, die instrumentalen Tracks sind deutlich wahrnehmbar und zwischen Neo-Klassik, Jazz und Electro-Downbeat verortet, mal abwechselnd, mal vermengt dargeboten. Tempo kommt mit den eingebauten Elementen in die Tracks, an vielen Stellen neigt die Musik zum Zappeln und der Hörende gleich mit, dass der Chantré nur so im Schwenker schwappt. Ein Traum!
Was das Orchester hier in die Musik einbaut, lässt sich nicht in nur eine Genreschublade stecken: Es gibt Synthie-Sequenzen, die man aus den ersten Techno-Alben von Underworld kennt, es gibt Breakbeats, Flöten und Kontrabass wie bei Future Sound Of London, die Kombi aus synthetischen Klangerzeugern und satten analogen Instrumenten wie bei Kong, Electro-Jazz wie bei den jüngeren Yello, Scratches und Effekte wie im Trip Hop sowie am Ende ein aufgekratztes Stück Minimal-Neo-Klassik. „To Dream Is To Forget“ ist eine Abenteuerreise, auf der man wechselnden Landschaften ausgesetzt ist und sie munteren Schrittes und auf verschiedenen Vehikeln durchmisst. Entspannung bekommt man hier trotz Downbeats nicht, dafür passiert zu viel in den Tracks, Acheson und seine Mitstreitenden stehen dafür viel zu sehr unter Strom. Und zwei Schlagzeuge sind nicht nur Markenzeichen des Orchesters, sondern auch hörbare Kraft in der Musik.
Denn das Hidden Orchestra spielt nicht allein komponierte Stücke, Acheson lässt seinen Begleitenden Raum für Improvisationen. Es ist, als öffnete er seinen Ideenraum für die Mitwirkung seiner Vertrauensleute, die sich darin nach Herzenslust austoben durften. Am Ende passt alles bestens, die Tracks sind wohlgeformt, auch in ihrer Sperrigkeit, die bisweilen in die wohligen Sounds gebettet ist.
Offiziell ist das Hidden Orchestra ein Solo-Projekt von Acheson, doch sind Schlagzeuger Jamie Graham, Pianistin und Violinistin Poppy Ackroyd sowie Schlagzeuger und Posaunist (ungewöhnliche Mischung) Tim Lane vom ersten Album „Nightwalks“ aus dem Jahr 2010 an feste Ensemblemitglieder. Außerdem hier beteiligt sind Rebecca Knight am Cello, Jack McNeil an Klarinette und Bassklarinette, George Gillespie an der slowakischen Schnabelflöte Fujara, Phil Cardwell an der Trompete, Tomáš Dvořák an der Klarinette, Yvo Ackroyd Acheson (der Name lässt Rückschlüsse über die familiären Zusammenhänge in der Band zu) mit Percussion, Su-a Lee am Cello und Ali Tocher mit Soundeffekten. Der Chef selbst trägt den Löwenanteil bei: Piano, Bässe, Zither, Analoge Synthies, Hammered Dulcimer (Hackbrett), Hapi-Drum (Steeldrum), Glockenspiel, Eggslicer Harp (Eierschneider, ernsthaft), Field Recordings, Becken und Fagott. Das ist schon auf dem Papier ein wilder Mix und ergibt in echt eine strukturierte, abwechslungsreiche Platte, bei der man sich angesichts der vielen analogen Instrumente wundert, wie elektronisch sie doch ausfällt.
Auch ohne Texte transportiert das Album Inhalte. Der Titel ist einem Gedicht des Portugiesen Fernando Pessoa entnommen, in dem es heißt: „No one tires of dreaming, because to dream is to forget, and forgetting does not weigh on us, it is a dreamless sleep throughout which we remain awake.“, aus seinem „The Book Of Disquiet“, „Das Buch der Unruhe“, im Original „Livro do Desassossego“. Acheson spricht in Bezug auf das Album von Träumen, die die Realität verarbeiten und in Geschichten umwandeln. Da haben die Träume aber eine Menge zu tun, glaubt man diesem Album: Es ist unruhig in der Ruhe, das macht es ausgesprochen reizvoll.