
Von Guido Dörheide (02.10.2025)
„Hardy ist gestorben.“ Die Nachricht kam am 27. September von meinem besten Freund, dem Herausgeber hier. Ich wollte nie den Namen eines Freundes und das Wort „Nachruf“ in einer Überschrift Seite an Seite lesen, aber nun geht es nicht anders. Ich habe Hardy 2020 kennengelernt und erst seit 2022 waren wir befreundet, ich kenne ihn also nicht so lange wie beispielsweise Matthias oder Marc ihn kannten, und logischerweise war meine Freundschaft zu ihm nicht so tief wie bei Marc oder Matthias. In der kurzen Zeit habe ich aber erlebt, dass Hardy ein so besonderer Mensch gewesen ist, dass es mir nun so vorkommt, als wäre ich schon Jahrzehnte mit ihm befreundet gewesen. Und anstatt einfach nur zu heulen, weil es das ist, wonach mir zumute ist, was aber nichts bringt, Hardy nicht, mir nicht, und allen die ihn gekannt und gemocht und geliebt haben, ebenfalls nicht, möchte ich hier einige Anekdoten und Gedanken aufschreiben, die eventuell helfen, Hardys Besonderssein zu ermessen:
Zum ersten Mal traf ich Hardy am 14. Juli 2020. Ich war mit Matthias im Café Riptide verabredet, weil wir Fotos für ein Buch machen wollten, zu dem wir einen Beitrag beigesteuert hatten. Ich kam mit dem Auto und fand keinen Parkplatz und war daher zu spät dran. Im Riptide fand ich Matthias mit zwei Männern, die ich nicht kannte und die mir als Marc und Hardy vorgestellt wurden, in Gespräch und Gelächter vertieft. Anstatt uns zu zweit an einen anderen Tisch zurückzuziehen, beschlossen wir, in der Viererkonstellation sitzen zu bleiben und einfach Hardy und Marc die benötigten Fotos machen zu lassen. Nach kurzer Zeit kamen wir auf die damals gerade noch mal so beliebten Chuck-Norris-Fakten zu sprechen, und Hardy meinte, dass er sich auf diesem Gebiet überhaupt nicht auskenne (eigentlich sagte er, glaube ich, sogar, nie davon gehört zu haben). Darauf Marc: „Chuck Norris hat sogar bei Star Wars mitgespielt.“ Und wir so: „Echt?“ Und Marc so: „Ja, echt. Er war die Macht.“ Wir haben dann über andere Themen weiter geredet und irgendwann meinte Hardy: „Nennt mir einen Film, in dem Chuck Norris mitgespielt hat. Außer Star Wars!“
Zum zweiten Mal habe ich Hardy am 28. April 2022 getroffen. Ich lebte seit einiger Zeit getrennt, hatte eine schöne Wohnung im Östlichen Ringgebiet bezogen und angefangen, Artikel für KrautNick zu schreiben. Einer meiner ersten war der Bericht über „Mordsgeschichten auf der Oker“-Promo-Floßfahrt für Pressevertreter:innen. Ich radelte also mit Kamera, Zettel und Stift bewaffnet hin und traf erneut auf Marc (hier unter seinem Autorennamen Till Burgwächter) und Hardy, die mir die Aufregung vor meiner ersten Außenreportage nahmen. Gemeinsam mit dem Fotografen der BZ, Okertours-Chef Dieter Werner sowie den Autoren Armin Rütters und Thomas Ostwald stachen wir in See, bzw. in den Oker-Umflutgraben. Nach wohlbehaltener Rückkehr saß ich noch lange bei Bier & Zigaretten mit Marc und Hardy am Ufer der Oker und ließ mich mit Hintergrundinformationen für meinen Artikel versorgen, wir erinnerten uns alle noch an unser erstes Treffen im Riptide knapp zwei Jahre zuvor und gedachten Chuck Norris’ a/k/a Die Macht. Es war ein sehr schöner Abend. Und Hardy sorgte vor Beginn der Floßfahrt für den typischen Hardy-Crueger-Brueller: Bevor wir das Floß bestiegen, wurden wir der Tretboote der OkerTours gewahr, die einige Meter weiter vor Anker lagen. Es gab normale Tretboote, weiße Schwäne und einen rosa Flamingo. Da wir nur so wenige Passagiere waren, kam die Frage auf, ob nicht anstelle des Floßes auch ein Tretboot ausreichen würde, um uns alle zu transportieren, und Hardy rief aus: „Wir nehmen den rosanen! Den Pelikan!!!“
Ich habe das immer gefeiert, dass ein großartiger Schriftsteller, der in seinen Texten für haufenweise zitierfähige Textpassagen gesorgt hat, auch im wirklichen Leben Sätze für die Ewigkeit fabriziert hat. Ein weiteres Beispiel dafür ist, dass Hardy 2023, als meine Scheidung vor der Tür stand, spontan angeboten hat, mich zum Amtsgericht zu begleiten, und zwar mit den Worten „Als Dein Zeuge! Äh, braucht man dafür überhaupt einen Zeugen?“ Wurscht, Hardy war an dem Tag vor Ort, quasi als mein Scheidungszeuge, und anschließend saßen wir noch lange beim Kaffee zusammen, obwohl Hardy eigentlich gar keine Zeit hatte.
Seine Bücher interessierten mich, weil mich Hardy als Mensch interessierte, und so begann ich mit den „Okergeschichten“, mich in sein Werk hineinzulesen. Ich glaube, die „Okergeschichten“ waren sogar ein Tipp von Hardy selbst, als ich ihn fragte, womit ich anfangen könnte. „Das Schlachthaus“ wollte er mir auf einer Lesung nicht verkaufen, wie er mit den Worten „Das verkaufe ich Dir nicht! Das ist zu hart für Dich!“ und einem schelmischen Grinsen unterstrich. Ich habe es natürlich dennoch gelesen. Und gefeiert. Obwohl ich nach der Lektüre Matthias’ Äußerung „Manchmal habe ich Angst, mit Hardy einen Kaffee trinken zu gehen. Weil er derjenige ist, der sich all diese Geschichten ausgedacht hat.“ gut nachvollziehen konnte. Aber zurück zu den „Okergeschichten“: In zwei Bänden erzählt Hardy dort von der Oker, jeweils 12 Geschichten pro Band, und dazwischen ist „Der Untergang. Die dreizehnte Okergeschichte“ erschienen. Mein absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten, gegen das nicht mal „Früchte des Zorns“ oder „Der Zauberberg“ gegenanstinken können: Ein nur ca. 50seitiger Action-Katastrophenthriller, in dessen Verlauf das Ausflugsschiff „MS Aquamarin“ durch die explosionsbedingt geborstene Staumauer auf einer riesenhaften Flutwelle bis weit in den Landkreis Gifhorn hinein katapultiert wird. Inmitten dieses Pandämoniums findet Crueger noch Zeit, zwei am Ufer der Talsperre angelnde Freunde als griechischen Chor zu installieren und haufenweise Innenansichten der handelnden Figuren auszubreiten. Dieses Buch enthält mein Lieblingsliteraturzitat aller Zeiten: Das Schiff reißt sich los und wird von der Strömung des berstenden Okerstausees hinweggerissen und der Kapitän – Tiefensee mit Namen – ist machtlos. Und dann schreibt Hardy: „Kapitän Tiefensee stand hoch aufgerichtet im Heck, ballte die Fäuste gen Himmel und verfluchte Gott.“ Besser hätte es niemand auf den Punkt bringen können. Ich fragte Hardy, warum der Kapitän denn ausgerechnet Tiefensee hieß, wie der ehemalige Verkehrsminister, und bekam die typische Hardy-Crueger-Antwort: „Wie wer? Der Kapitän fährt auf einem See, der See ist tief! Wie sonst hätte ich ihn nennen sollen?“ Fall abgehakt. Dieses Buch, wie gesagt, nur knapp 50 Seiten lang, hat mir verdeutlicht, wie ressourcenschonende Belletristik funktioniert. Jeder andere Thrillerschreibende hätte für diese Geschichte 700, wenn nicht mehr Seiten vollgekritzelt und damit den halben Harz abgeholzt. Nicht so dagegen Hardy: Auch in seinen anderen Thrillern habe ich gestaunt, wie viele Informationen, Charakterstudien und zitierfähige Formulierungen auf erstaunlich wenigen Seiten Platz finden.
Einige Male sah und hörte ich Hardy bei den Mordsgeschichten auf der Oker aus seinen Okergeschichten vorlesen und es war immer ein besonderes Gänsehautgefühl, wenn Hardy beispielsweise kundtat, dass Peter van de Koerten (seine Version des „Vampirs von Düsseldorf“ – Peter Kürten) nur wenige Meter vom Floß entfernt auf der Terrasse des Steigenberger Parkhotels sein Unwesen getrieben hat oder wenn er die unheimlichsten Stellen seiner Okergeschichten mit verteilten Rollen und teils obergruseligen Stimmen vorgelesen hat.
Die Oker war immer ein großes Thema bei Hardy, dennoch sind seine Bücher niemals „Regionalkrimis“, in denen der Schriftsteller zeigt, wie toll er sich in der jeweiligen Region auskennt. Die Lesenden müssen sich in und um Braunschweig herum zumindest gar nicht auskennen, um sich in Hardys Romanen zuhause zu fühlen, und wenn sie es doch tun, können sie herzlich/hämisch/wie auch immer über Gestalten lachen wie über den Lokalpolitiker in der mit „Dilettanten“, „Experten“ und „Profis“ genial betitelten Rick-Xaver-Morton-Trilogie, der an Korruption, Schmierigkeit und Skrupellosigkeit nicht zu überbieten war und dessen Nachname seeehr nach „Glogowski“ klang.
Neben spannenden Krimis („Der Flussmann“), verstörenden Charakterstudien („Das Glashaus“), brutalem Splatter („Das Schlachthaus“), originellen, lustigen und dabei auch oft abgründigen Kurzgeschichten („Okergeschichten“, „Braunschweig’sche Verbrechen“ (zusammen mit Till Burgwächter)), fesselnden Thrillern, bei denen die Hauptpersonen oft nur übelst zugerichtet hinten wieder herauskamen („Die Stunde der Flammen“/„Das Blutspiel“, hier verliert die Kommissarin zunächst einen Arm und dann beinahe ihr Leben, eine weitere Fortsetzung hätte die Gute kaum überlebt) und die darüber hinaus noch rührende Romanzenthematiken (die Kommissarin aus Magdeburg und der Ossi-Witze erzählende Kommissar aus Hannover, der auch im „Untergang“ auftaucht, finden am Ende von „Die Stunde der Flammen“ zusammen und der fehlende Arm ist endlich nicht mehr beim gegenseitigen Umarmen im Weg) enthielten, konnte Hardy Crueger auch historische Romane wie „Der andere Krieg – Die Odyssee des Viktor Rosenfels“ oder „Der Herzog, der Räuber und die Tochter des Goldschmieds“, die ich hiermit allen wärmstens ans Herz legen möchte, deren Interesse ich hoffentlich wecken konnte – diese Bücher sind sehr besonders, passen in keine der gängigen Schubladen und lesen sich innert weniger Abende weg, weil man einfach wissen möchte, wie es weitergeht.

Weiters lagen Hardy als langjähriger Wahl-Wolfenbütteler Leben und Werk des Gotthold Ephraim Lessing am Herzen. 2019 veröffentlichte er „Der Mord an Sara Sampson“, eine Übertragung von G.E. Lessings „Miß Sara Sampson“ in die Neuzeit. Hardy hat darin Auszüge von Lessings Text mit eigenen Texten verschmolzen, darunter mein zweitliebstes Literaurzitat „‚Mellefont, retten Sie meine Tochter!‘ – ‚Machen Sie mich zu Gott, und wiederholen Sie dann Ihre Forderung!‘“ Letzterer Satz ist tatsächlich original von Lessing. Immer zu Lessings Geburts- (22. Januar 1729) oder Todestag (15. Februar 1781) hat Hardy seinen – in der Druckausgabe von „Der Mord an Sara Sampson“ enthaltenen Text „Einfach G.E.L. – Eine autobiografische Lesung“ – an unterschiedlichen Schauplätzen vorgetragen, im Raabe-Haus, in der KaufBar oder in der Buchhandlung Benno Goeritz. Zweimal habe ich diese Lesungen miterlebt (am 22. Januar 2023 in der KaufBar (damals bei mir zuhause gleich gegenüber) und am 15. Februar 2024 bei Benno Goeritz). Hardy in der Rolle des Gotthold Ephraim Lessing, der launig aus seinem ereignisreichen Leben plaudert, war immer ein Großereignis.
Die Liebste hat Hardy im Herbst 2022 auf einer Lesung bei Benno Goeritz kennengelernt, da waren wir gerade erst einmal ein paar Wochen zusammen. Hardy hat sie gleich begeistert gebeten, einige Sätze zu sprechen, weil er von ihrem Dialekt fasziniert war, und Annett hatte das Gefühl, als kenne er sie schon ewig und fühlte sich auf Anhieb wohl in seiner Gesellschaft. Dasselbe Lob geht im Übrigen an meinen Herausgeber, den sie bei dem Anlass auch zum ersten Mal traf.
Zum Glück haben wir es noch geschafft, einen Besuchstermin bei uns im Oberharz hinzukriegen, gegen Ende letzten Jahres. Es gab Kuchen, den Hardy mitgebracht hatte, und echten Bohnenkaffee und wir haben uns sehr gut unterhalten. Wir hätten nur nicht gedacht, dass es das letzte gemeinsame Zusammensein sein sollte.
Am 26. Juli kam Matthias’ Nachricht, dass es Hardy nicht gut ginge. Wir tauschten noch einige Nachrichten aus und wollten uns treffen, bei der Gelegenheit wollte Hardy mir für Annett den „Bootsmann“ signieren. Zu diesen Treffen kam es nicht mehr und ich bleibe hier nachdenklich zurück und frage mich, ob ich mich zu selten gemeldet habe, zu wenig für ihn da gewesen sei womöglich. Ich habe oft gezögert, ihn anzuschreiben, habe gedacht, „meine heile Welt wird ihn gerade nicht interessieren und immer nur nachzufragen, wie es ihm ginge, wäre vielleicht auch übergriffig“. Wahrscheinlich waren diese Gedankengänge bekloppt. Aber am Ende bin ich froh, dass wir noch Kontakt per WhatsApp hatten, und hoffe, Hardy sitzt jetzt irgendwo mit den Herren Mann, Steinbeck, Joyce, Bukowski et. al. an einem Tisch und alle denken sich gemeinsam neue Geschichten aus. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Erzähle den anderen bitte von der Oker!
