H. Hilker, A. Pehlemann, A. Ulrich, J. Wagner (Hg.) – Power von der Eastside: Jugendradio DT64, Massenmedium und Massenbewegung – Ventil 2025

Von Matthias Bosenick (25.04.2025)

Wir hörten DT64 damals, im Zonenrandgebiet, obschon zumeist zur Nachwendezeit erst, weil der Sender ein Musikprogramm bot, das man von den renommierten Sendern aus der Gegend nicht mehr kannte, da die sich in Richtung Formatradio verabschiedet hatten. Was wir alles nicht wussten – etwa, was der Name bedeutete, welche Rolle der Sender zu DDR-Zeiten spielte und welche phantasievollen Kämpfe es nach der Wende um den Erhalt dieser wichtigen Einrichtung gab –, das erfährt man nun in diesem Buch, nach einem Slogan des ursprünglichen FDJ-Senders „Power von der Eastside“ genannt. Und man lernt in diesem Kompendium aus bereits 1993 erschienenen und neu angefertigten Aufsätzen auch so einiges über Selbstverständnis und Selbstermächtigung im Unrechtsstaat, deutsch-deutsche Geschichte und Rock’n’Roll. Spoiler: DT64 heißt seit 1993 mdr Sputnik und ist ein Formatradio. Die Erinnerungen an DT64 indes brennen noch immer, wie dieses Buch belegt.

DT64 steht für Deutschlandtreff 1964, eine FDJ-Veranstaltung, in deren Rahmen ein Radiosender ins Leben gerufen wurde, der für die Dauer dieses Treffens live berichtete. Und der so gut ankam, dass er zunächst als Jugendsendung im staatseigenen DDR-Radio eingebettet wurde und kurz vor der Wende den Stand des eigenständigen Senders erhielt. Da sollte man meinen, dass es zwischen 1964 und 1989 mehr zu berichten gäbe als zwischen 1989 und 1993, doch ist die zweitere Epoche die mit der größten emotionalen Sprengkraft. Nichts davon lässt sich natürlich losgelöst von politischen Grundierungen beobachten.

Diese Beobachtungen nun nehmen in diesem Buch um die zwei Dutzend Menschen vor, die von 1964 bis sogar heute relevante Rollen im Zusammenhang mit DT64 hatten und haben. Das reicht von Kalle Neumann, der der erste Moderator von DT64 war, über Marion Brasch, die sich nicht von anderen Angeboten weglocken ließ, Lutz Schramm, den auch Platten- und CD-Sammler aus dem Westen namentlich kannten, bis hin zu Kultur-Projektentwickler Moritz von Rappard aus Hannover, der diesem Buch mit vorausgehenden Aktionen wichtige Impulse mitgab. Natürlich erzählen sie alle aus dem Wohl und Wehe des Senders, decken die Geschichte ab mit Höhen und Tiefen, die sich in der DDR komplett anders ausnahmen als im Westen, da die Politik einerseits trotz der offiziellen Verbindung von DT64 zur FDJ die übermittelten Haltungen des Senders mit Argusaugen beobachtete und andererseits aufgrund ihrer Kurzschwänzigkeit ausgebürgerten DDR-Künstlern ein Aufführungsverbot auferlegte und damit aktiv in Programmgestaltungen eingriff, ganz abgesehen vom Widerwillen gegen den verhassten Beat und die Westmusik allgemein. Gemessen an solchen Umständen, kann man DT64 anerkennend eine ausgelebte Narrenfreiheit attestieren, wenn man den Berichten hier folgt.

Nun ist der Zeitstrahl mit all seinen Auswüchsen nicht der einzige Inhalt dieses Buches. So kritisch, wie der Sender seinerzeit selbst mit sich war, gehen auch die Beitragenden dieses Buches an die Themen heran. Analytische Artikel zur Staatstreue, zur Hörerentwicklung, zur Bedeutung von Radio allgemein und von DT64 speziell, von gesellschaftlichen Umbrüchen im Radiokonsum, also auch Themen, von denen man irrtümlich glaubt, sie seien langweilig, finden hier ihren Niederschlag. Und dann natürlich das Besondere, das DT64 ausmachte, was kein anderer Sender aufzuweisen hatte und hat, nämlich eine Hörerbindung, die dazu führte, dass es eben die Hörer waren, die mit Aktionen um den Erhalt ihres Senders kämpften, als nach dem Mauerfall noch keine neuen Rundfunkgesetze galten und die zu erwartenden ein Abschalten des Jugendradios in Aussicht stellten.

Da steckt dann bei allem Drama auch eine Menge Humor drin. Was die Leute nicht alles machten: Dem Dresdner Oberbürgermeister das Büro besetzen, zum Üben, weil’s danach an wichtigere Leute gehen sollte; diese Aktion setzten Unterstützer-Vereine um. Einen Tag lang hörspielartig so tun, als sei die Abschaltung bereits erfolgt und man sei darauf verfallen, DT64 als Piratensender von verschiedenen Positionen aus, die ständig Gefahr liefen, von Peilwagen entdeckt zu werden, zu senden – inklusive Glühwein im September. Oder der Tag, an dem DT64 unangekündigt so überdreht moderiert sendete, wie es von der Umwandlung zu einem Formatradio zu erwarten gewesen wäre.

Mutige Sendungen und den Austausch mit den Hörenden gab es bei DT64 vor und nach der Wende intensiv. Etwa die einstündige Collage „Fuck The Wall“ von Peter Gotthardt, die so gut ankam, dass der Sender sie sogar wiederholen musste. Oder die exklusiven Aufnahmen von den „anderen Bands“, wie Indie-Combos in der DDR offiziell hießen, die es in Auszügen sogar auf das staatseigene Label Amiga schafften. Die noch vor der Wende von Lutz Schramm kuratierten LPs „Parocktikum“ und „Kleeblatt #23“ sind seit zwei Jahren überdies als Doppel-Vinyl wieder erhältlich. Und Mut gehörte auch dazu, sich aktiv gegen Nazis, Faschisten, Rassisten zu stellen, was DT64 schon zu DDR-Zeiten unternahm, sehr zum Verdruss des Staates, der solche Angelegenheiten totschweigen wollte, weil es sie nicht geben durfte, sowie nach dem Mauerfall, als Glatzen den Osten aufzumöbeln begannen und sich auch gegen quasi von Natur aus antifaschistische DT64-Gefolgschaften stellten.

Schwierig gestaltet sich bei der Lektüre, jedem Beitrag ohne Stützen zu folgen, da man, möglicherweise als Westgeborener, nicht jeder Formulierung und Wendung folgen kann, da man die zeitlichen und politischen Abläufe sowie Fachbegriffe und Namen nicht vollständig parat hat, aber dennoch – dieses Buch zu lesen, hat an vielen Stellen etwas von einem Krimi, so spannungsgeladen, wie die drohende Abschaltung oder der auf der Soli-Sampler „Systemausfall“ verewigte so genannte RIAS-Coup hier eine Nacherzählung erfahren. Auch wenn man wie bei „Titanic“ oder „Apollo 13“ den Schluss bereits kennt, der ja im Grunde keiner ist, weiß man von unendlich vielen Begleiterscheinungen nichts und wundert sich dann, was man 1990 bis 1993 alles nicht mitbekommen hat, so unendlich viele Aktionen, Demos, Besetzungen, Festivals nicht nur auf dem Gebiet der früheren DDR. Was man überdies nicht gekennzeichnet bekommt, ist, welche Artikel explizit dem vor 32 Jahren erschienenen „DT64 – Das Buch zum Jugendradion 1964-1993“ entnommen sind. Bei einigen wird es aus inhaltlichen Gründen klar, bei anderen nicht, und es erstaunt, wie geschlossen der Sprachstil hier ist, der keine Kluft von 30 Jahren entstehen lässt.

Jetzt wünscht man sich eigentlich nur noch Hörbeispiele, also Sendungsmitschnitte, aus allen Epochen. Fotos sind enthalten, sehr zur Freude und zur Dokumentation. Und wie stand es überhaupt um Elf99, die Musiksendung, die hier immerhin am Rande erwähnt wird? Gibt’s da auch ein Buch? Zumindest an diesem hat man Genuss, trotz des bisweilen haarsträubend fehlenden Lektorats. Es erzählt die Geschichte der DDR und der Zusammenkunft der zwei deutschen Staaten aus einer komplett eigenen Perspektive, deren Relevanz eng mit der Identität der in die Orientierungslosigkeit entlassenen DDR-Bürger verkettet ist.

Nachklapp: Marus(c)ha hatte eine Techno-Sendung auf DT64, bevor sie überhaupt selbst Musik veröffentlichte. DT64 unterstützte die erste Mayday-Veranstaltung und die kurz darauf im Gegenzug den Sender. Feeling B, die Band mit den späteren Rammstein-Musikern Flake und Paul Landers, verdankte ihre ersten Aufnahmen zu DDR-Zeiten DT64. Und das sind nur wenige Details, die auch für Westdeutsche einen Aha-Moment haben – das Buch strotzt vor erhellenden Zusammenhängen und Berichten.