Von Matthias Bosenick (12.11.2023)
„Gondola“ dürfte ein an wortlosem Einfallsreichtum kaum zu überbietender Film sein: Zwei Seilbahn-Gondeln gondeln über ein 300 Meter tiefes Tal in den Bergen Georgiens. Die beiden isolierten Schaffnerinnen begegnen sich immer in der Mitte und gehen in einen liebevollen Wettstreit um die kreativste Art, die Aufmerksamkeit der jeweils anderen zu erregen. Die aufkeimende Romanze der beiden erfährt einen Dämpfer, als die Fluchtpläne einer der beiden offenbar werden – es erfordert von jener nun also noch mehr Kreativität, die andere von sich zu überzeugen. Alles ohne Worte – und fesselnd und unterhaltsam wie nix. Was auch an den Bildern liegt, mit denen Veit Helmer hier arbeitet, da geben Gondeln in den Wolken einiges vor. Und Helmer macht mehr draus!
Iva kommt neu an die Seilbahnstation, weil sie ihren verstorbenen Vater beerbt. Ihre Kollegin Nino arbeitet sie ein, angewiesen vom Arschloch-Chef. Mit dem spielt Nino Etappen-Schach zwischen ihren Anwesenheiten, aber als sie ihn beim Schummeln ertappt, verlagert sie das Schachspiel auf Iva: Jede der beiden kommt zum Zug, sobald ihre Gondel oben angelangt ist. Das ist der Auftakt zu einem wahren Wettstreit der Ideen: Eine gestaltet die Gondel zu einem Flugzeug um und verkleidet sich als Stewardess, eine macht ein Auto draus, eine ein Schiff, eine eine Rakete. Nino wird bei einsetzender Dämmerung deutlicher, illuminiert ihre Gondel in Rot und entkleidet sich sittsam vor Ivas Augen. Als die der Aufforderung zur Zusammenkunft nachkommt, entdeckt sie jedoch eine Jobzusage von Air Georgia in Ninos Wohnung – und macht der erblühten Liebe ein Ende. Doch Nino gibt nicht auf und legt sich umso mehr ins Zeug, Iva zu erobern. Ja, es wird noch verrückter.
So oft die Gondeln im Film auch leer fahren, weil es um die Frauen geht, sieht man doch genau so oft andere Menschen von Relevanz, die beiden Kinder, die zur Schule müssen und sich zunächst bekakeln, die alte Frau, die zum Markt will und in Naturalien bezahlt, den zauseligen Rollstuhlfahrer, den der Stationsvorsteher immer abweist, die Leute im Tal, die ihrer Arbeit nachgehen und den Gondeln zuwinken. Ihnen allen kommt zum Finale hin eine spezifische Rolle zu, die das glückliche Ende in einem Ideenfeuerwerk explodieren lassen.
Da hat man schon keine Worte außer einem einsamen „okay“ mittendrin, dann muss der Film also auf anderer Ebene funktionieren. Es gelingt Helmer vorzüglich, so viele Details einzubauen, dass der Film nie langweilig wird, dass man sich vielmehr gespannt auf die nächste Idee freut. Und Helmer bildet das alles zauberhaft ab, er zeigt technische Details der Seilbahn ebenso wie die Taltotalen und dazwischen alle zur Geschichte und zur Emotion passenden Perspektiven und Ausschnitte. Besonders die Nachtfahrten beeindrucken, aber auch tagsüber, wenn die Gondeln in der Ferne in Wolken verschwinden oder sie wie grafische Elemente an den Seilen über die Leinwand schweben. Ein Fest fürs Auge. Und fürs Ohr: Die eingesetzte Musik entspricht zumeist einer reduzierten georgischen Folklore – und gipfelt in einer Massenaktion.
Mehr Hintergründe zum Film und dessen Entstehung gibt Iva-Darstellerin Mathilde Irrmann beim Braunschweiger Filmfest preis, etwa, dass die Dreharbeiten deshalb fünf, sechs Wochen dauerten, weil die Seilbahn ja – anders als im Film – stark frequentiert war und sich das Filmteam die Gondeln mit den tatsächlichen Nutzern teilen musste. Irrmann und ihre Kollegin Nino Soselia ließen ihre Beine aus den echten Gondeln baumeln und wagten gefährliche Sprünge aus ihnen heraus, der Gefährlichkeit der 50 Jahre alten Anlage nicht bewusst, die nach Abschluss der Dreharbeiten ihre wahre lebensbedrohliche Seite doch noch offenbarte. Der Rollstuhlfahrer baumelte tatsächlich an der Gondel, das war echt, nur dass es sich um einen Stuntman handelte, nicht um den Darsteller, und der, so Irrmann, „war versichert“; ein herrlicher Versprecher über den in Wahrheit auch ge-sicherten Filmmenschen.
Irrmann erzählte auch, dass die Geschichte über eine gleichgeschlechtliche Liebe in Georgien besser nicht offenbar werden sollte und wie das Team die beteiligten Einheimischen im Unklaren lassen musste, inklusive der realen Gondelbegleiter, die beim Dreh stets in den winzigen Kabinen mitfahren mussten und nicht alles verstehen durften. Dennoch, so Irrmann, sei „Gondola“ kein LGBTQ-Statement, sondern lediglich ein Film über zwei Menschen, die sich lieben. Alice Weidel würde es womöglich so ähnlich ausdrücken, aber mal umgekehrt betrachtet: Ein Film über einfach nur zwei Menschen, die sich lieben, und deren Geschlecht somit egal ist, kann doch kaum ein stärkeres LGBTQ-Statement sein. Ganz abgesehen davon, dass das möglicherweise ohnehin nebenrangig ist: „Gondola“ sprüht vor Ideen und unterhält auf hohem Niveau, mindestens 300 Meter über dem Tal, und ist noch besser als Helmers Vorgängerfilm „Vom Lokführer, der die Liebe suchte …“.