Von Matthias Bosenick (30.09.2022)
Man kann angesichts der für die Kulturszene haarsträubenden Coronapolitik natürlich eingeschnappt motzend auf die Straße gehen – man kann aber auch seine Chancen nutzen und trotzdem seine Meinung kundtun. Und das ganz ohne Kontakt zu Querdenkern. Oswald Henke beherrscht diese analytische Diskursfähigkeit. Er hält seine verbitterte Haltung nicht hinterm Berg, dass er sich als Teil der Kulturszene von der Politik verraten fühlt, und reagiert darauf andererseits auch damit, dass er seine Kunst für den Heimgebrauch umfunktioniert: Das ausgefallene Osterkonzert des Jahres 2021 seiner Band Goethes Erben führte er mit Kammerensemble trotzdem auf und bringt den Mitschnitt nun als DVD und CD unter seine Gefolgschaft. Begleitet an Cello, Flügel und Percussion, erfahren die vertrauten Stücke aus 30 Jahren Goethes Erben teilweise Neuarrangements – und Henke performt, als stünde er vor einer großen Menschenmenge. Das kann er, und dafür allein schon lohnt sich „Das gestohlene Konzert“.
Henke sammelt gute Leute um sich, wie immer. Hier sind es Benni „Cellini“ Gerlach von Letzte Instanz am Cello, Sebastian Boettcher am Flügel und Markus Koester an den fast an Schlagzeug heranreichenden Percussions. Mit den ersten beiden spielte Henke bereits das 2020er-Album „Flüchtige Küsse“ ein, Percussion kam auch bei ausgewählten Songs auf der 2021er-„Elemente“-Box hinzu, somit erklingen die Lieder aus der jüngeren Zeit also im halbwegs vertrauten Gewand. Für das meiste davor – darunter natürlich viele Klassiker sowie mit „Medea“ sogar ein Stück seines Alternative-Rock-Projektes Henke – gilt das nicht mehr, denn jene Stücke musste das Quartett für diese Darbietung neu arrangieren, da sie im Original in Bandbesetzung eingespielt wurden. Es bleiben die Texte, die Henke nicht singt, sondern rezitiert; sein Markenzeichen mithin, und hier lässt er sich auch mit Vorliebe als Theaterdarsteller aus. Was für einen Ausdruck der Mann hat, Henke lebt seine Texte, die aggressiven wie die besinnlichen, die melancholischen wie die kraftvollen. Man sieht ihm an, was in ihm vorgeht, wenn er seine philosophischen, politischen, kritischen, reflexiven Inhalte ins Mikrofon wispert, spricht, schreit, ruft.
Die drei Musiker steigern sich mit Henke in die Stücke hinein, sie tragen vorzüglich die Stimmungen mit, von Depression bis Wutausbruch. Sie liefern Rhythmus auch ohne wuchtige Drums ebenso wie die Melodien, die Henkes gesanglose Darbietung fehlen lässt. Auch ohne die bei Livemitschnitten ansonsten üblichen Overdubs – die Tonspur erfuhr keinerlei Nachbearbeitung – generiert das Trio einen mehr als angemessenen Sound für Henkes Texte. Die Lieder sind schön, auch in ihrer Schwere. Und voller Energie.
Zudem erfassen die Kameras jeden der vier Beteiligten anteilig gerecht. Man bekommt hier nicht nur die Totale angeboten, die die kleine Bühne erfasst und die zwischen den Musikern aufgestellte Deko mit den klassischen Goethes-Erben-Devotionalien zeigt, sondern die Filmenden rücken den Musizierenden intim nahe. Man sieht Hände, konzentrierte Gesichter, Blicke, Henkes mit dem Verlauf des zweistündigen Konzertes zu fließen beginnenden Schweiß, auch seine mitgebrachten Requisiten, und bei aller Ernsthaftigkeit auch das Lächeln der Musiker, wenn sie besonders knifflige Passagen spielen oder auch mal einander anblicken, wohl wissend, dass da gerade etwas Gutes entsteht. Lächeln darf man hier sowieso, das ist eine wichtige Erkenntnis bei Goethes Erben seit jeher: Trotz der ernsthaft-dunklen Erscheinung mangelt es dem sympathischen Henke nicht an Humor. „Der Stuhl ist sogar älter als ich“, grinst er etwa.
So richtet sich dieses Konzert an die Fans, die Henke und Mitmachenden auch in der Pandemie die Treue hielten und halten. So familiär ist auch das ganze Projekt: Langzeit-Mitstreiter Jochen Schoberth besorgt hier den Ton, „Ralf Rabinski“-Hörspielerfinderin Ulrike Rank ist für das Artwort verantwortlich. Dem Digipak liegen zudem Aufkleber und Postkarten bei sowie eine signierte Konzertkarte für „irgendwann irgendwo 2021“. Gottlob belässt es Henke nicht dabei, die Kulturpolitik zu bemängeln – er macht auch weiterhin Kultur, so arbeitet er nach wie vor am zehnten (ja, man darf eine ganze Menge nicht mitzählen, wenn man auf nur zehn kommen will) Goethes-Erben-Album „X“, das er schnellstmöglich auch auf die Bühne bringen will – sofern das möglich sein wird. Und wenn nicht: Er hat eine Erbenfamilie, die ihn unterstützt, und „Das gestohlene Konzert“ ist ein guter Beleg dafür, denn ohne eine überschrittene Mindestabnehmerzahl hätte er es nicht veröffentlicht.
Die Tracklist der DVD (die CD hat sieben Stücke weniger):
01 Heldenuntergang (von „Flüchtige Küsse“, 2020)
02 Ich möchte fliegen (von „Elemente“, 2021)
03 Tage des Wassers (von „Dazwischen“, 2005)
04 Zwischenzeit (von „Dazwischen“, 2005)
05 Seelenschatten (von „Flüchtige Küsse“, 2020)
06 Stumme Nächte (von „Flüchtige Küsse“, 2020)
07 Das schwarze Wesen (von „Der Traum an die Erinnerung“, 1992)
08 Fern ab vom Licht (von „Elemente“, 2021)
09 Vermisster Traum (von „Nichts bleibt wie es war“, 2001)
10 Märchenprinzen (von „Tote Augen sehen Leben“, 1994)
11 Zeit zu gehen (von „Elemente“, 2021)
12 Iphigenie (von „Der Traum an die Erinnerung“, 1992)
13 Fünf Jahre (von „Der Traum an die Erinnerung“, 1992)
14 Ich bin der Zorn (von „Flüchtige Küsse“, 2020)
15 Wir alle suchen blind (von „Flüchtige Küsse“, 2020)
16 Darf ich bitten (von „Elemente“, 2021)
17 Kaltes Licht (von „Das Sterben ist ästhetisch bunt“, 1992)
18 Der Weg (von „Der Spiegel, dessen Weg durch stumme Zeugen zum Ende führt“, 1990)
19 Medea (von Henke, „Maskenball der Nackten“, 2013)