Ethel Cain – Willoughby Tucker, I’ll Always Love You – Daughters Of Cain Records 2025

Von Guido Dörheide (10.08.2025)

Was hört man eigentlich, wenn man gerade keine Lust auf Lady Gaga oder – noch besser – Lana del Rey hat? Anna von Hausswolff und Chelsea Wolfe haben immerhin lange kein neues Album veröffentlicht. Dann also Ethel Cain? Zumindest hat sie sich mit ihrem 2022er Debütalbum „Preacher’s Daughter“ aus meiner Sicht mit Vehemenz und sehr kompetent in die Fußstapfen der Vorgenannten geschmissen (ein Album, von dem ich zugegebenermaßen und in diesem Magazin nachlesbar erst Jahrende nach der Veröffentlichung Kenntnis erlangt hatte), aber seit dem gerade erst vor wenigen Monaten veröffentlichten Zweitlingswerk (das trotz der langen Spielzeit als EP zählt, somit ist „Willoughby Tucker etc.“ erst ihr zweites Album und damit passt es schon wieder, zuvor Geäußertes zu erwarten) „Perverts“ war ich mir nicht sicher, in welche Richtung sich das Werk der gebürtigen Floridaerin aus nunmehr Pennsylvania entwickeln würde. „Preacher’s Daughter“ war irgendwie sowas wie seeehr seeehr dunkler Folk mit Dreampopeinflüssen, wunderschönen Melodien und verstörenden Inhalten, auf „Perverts“ trat dann mehr das verstörende Element in den Vordergrund. Drone-Elemente wechselten sich mit Ambient-Passagen ab und zwischendurch schimmerte immer mal wieder der düstere Folk durch, und die Texte taten ihr Übriges zur beeindruckenden Gesamtwirkung bei.

Nichtsdestotrotz hatte Ethel Cain aber angekündigt, dass „Preachers Daughter“ der Beginn einer Trilogie sein sollte, und hier bekommen wir es also mit deren zweitem Teil zu tun. Was man deutlich hört: Das Eröffnungsstück „Janie“ ist finsterer Folk, wie man ihn sich wünscht. Mit einer sachte angeschlagenen Akustikgitarre beginnt das Stück und nur kurz später beginnt Ethel Cain langsam und in dunkler Stimmlage zu singen, um sich dann in höhere Tonlagen hinaufzuschrauben, und dazu singt sie Zeilen wie „Halt mich, Mehltau, ich möchte sterben in diesem Raum“. Nicht irgendwo in der Mitte des Songs, sondern gleich zu Anfang, damit wir wissen: Das hier wird kein Spaß. Die Ich-Erzählerin des Songs tut so, als würde sie nicht zusehen, wie die/der andere geht, aber sie wird sie/ihn für immer lieben. Sieht nicht gut aus (tat es das jemals?), geringes Risiko, weniger Glaube, aber sie wird warten. Die/der andere verändert sich, sie selber bleibt gleich, blättert die Seite um, die leer bleibt bis auf ihren Namen. Der/die Verlassende liebt eine andere, die zunächst die Schwester der Verlassenen war. Geht wohl nicht gut aus und nimmt die Hörenden mit, und so freue ich mich über das darauf folgende – wenn auch nicht fröhliche – Instrumental „Willoughby’s Theme“, ein schönes ruhiges Klavierstück.

Darauf folgt „Fuck Me Eyes“, mein Lieblingsstück auf dem Album. Es handelt von einer jungen Frau, die eine ziemliche Wirkung auf die jungen Männer in der Gemeinde hat, die alle mit ihr ausgehen wollen, aber niemand will sie mit nach Hause nehmen. Sie sieht aus wie ihre Mudda vor all den Drogen, weiß das und kommentiert ihre Mutter mit den Worten „She’s no good at raising children, but she’s good at raising Hell“. Das ist erstmal eine Geschichte, die jemand erzählt und die sehr deprimiert, und gegen Ende des Songs nimmt sich die Erzählerin der Protagonistin ihrer Erzählung an, vergleicht sich mit ihr, erst herabwürdigend und dann anerkennend, und am Ende bleibt es offen, ob Erzählerin oder Protagonistin bemitleidenswerter sind. Das alles zu wunderbar tragischer und melancholischer streicherdominierter Folkmusik mit elektronischen Schlagzeugelementen mit einer Stimme vorgetragen, die zwischen deprimiertem Gelangweiltsein und leidender Anteilnahme hin und her changieren. Besser kann es jetzt nicht mehr kommen.

Aber immerhin könnte die Künstlerin sich Mühe geben, das Niveau beizubehalten und beim Barte des Propheten – das tut sie:

Im nächsten Song („Nettles“) beginnt Ethel Cain, sich mit dem titelgebenden Willoughby Tucker zu beschäftigen, ihrer ersten Liebe, die eines Tages verschwand. Das macht sie bildhaft deutlich, indem sie den Geliebten zunächst angeschossen werden und dann nach und nach dahinschwinden lässt, ein Bild, dass mich an den Western „Dead Man“ erinnert und auch ebenso unheimlich/gruselig klingt. Und das ganze acht Minuten lang und keine davon ist zu viel. Auch das sich anschließende Instrumental-Zwischenspiel „Willoughbys Interlude“ ist für ein solches mit siemenhalb Minuten recht lang – und dennoch durchaus ordentlich – geraten. Ethel Cain denkt sich ihre Lieder nicht nur selber aus, sondern produziert sie auch, und das macht sie gut. Gegen Ende von „Willoughbys Interlude“ ertönt dann ein Geklimper, dass auf mehr Fröhlichkeit im nächsten Lied hoffen macht – schauen wir mal, ob „Dust Bowl“ diese freudige Erwartungshaltung bestätigen machen kann.

Äääh, nein! Kann es nicht, „Dust Bowl“ ist wieder ein Brecher voll freudloser Schwermütigkeit, und ein wunderschöner dazu. Der Song ist eine Lobhudelei auf Willoughby Tucker und was er für die Ich-Erzählerin bedeutet, und das klingt trauriger, als man sich eine Lobhudelei vorzustellen vermag. Es endet mit den Worten „Pretty boy / Consumed by death / With the holes in his sneakers / And his eyes all over me / Over me, over me.“ Ich weiß nicht, ob Liebeslieder immer so weh tun müssen, aber bei Ethel Cain tun sie das und es klingt großartig.

„A Knock At The Door“ startet mit den Worten „Satan’s in the State Penn“ – ja wie nu, im Staate Pennsylvania, an der Penn State University oder im Staatsgefängnis (State Penitentiary)? Cains Stimme klingt hier höher als auf den vorangegangenen Titeln, es erklingt eine einsame Akustikgitarre mit laut quietschenden Umgreifgeräuschen, jammerndem Chorgesang und wieder einmal mehr eine wunderschöne Melodie. Danach haben wir wieder ein Instrumental verdient, finde ich, und Ethel Cain findet das auch und nimmt mit „Radio Towers“ erstmal ordentlich Tempo aus der ohnehin nicht temporeichen, aber dafür umso mitnehmenderen und forderenden Darbietung. Repetitiv und echoreich würde ich es auf jedem anderen Album der Irrelevanz schelten – hier dagegen tut es dringend Not, damit man zwischendurch mal durchatmen kann.

Immerhin sind ja gut 25 Minuten des insgesamt 73minütigen Albums noch nicht gehört, und diese verteilen sich auf nurmehr zwei Songs: „Tempest“, ein 10minütiger Todesamerikanaalbtraum allerbester Machart, der sich über die gesamte Spielzeit von albtraumhaft-verspielt zu krachig-klirrend-düsterdonnernd steigert und unbedingt im Dunkeln mit dem Kopfhörer genossen werden sollte.

Das letzte Stück, „Waco, Texas“ (Heimatstadt des unlängst verstorbenen großen Dramatikers Robert Wilson), trägt dieselben Initialen wie Willoughby Tucker und handelt nicht davon, wofür Waco bekannt ist (nämlich der Erstürmung der Ranch des komplett irren Sektenführers David Koresh durch das FBI im Jahr 1993, wobei knapp 80 Sektenmitglieder umkamen), sondern wieder einmal mehr um besagten (und mittlerweile ja auch viel besungenen) Willoughby Tucker. Auch hier kommt er wieder echt nicht gut weg, die Beziehung zwischen der Erzählerin und dem jungen Herrn Tucker scheint eine komplett toxische gewesen zu sein, und das fasst Ethel Cain ein ums andere Mal in wunderschöne Worte und kleidet es in wunderschöne Melodien. Die Zuhörenden können Ethel Cain um ihre Erinnerungen an den Tucker-Typen nicht beneiden, sondern nur mit ihr mitleiden. Das verlangt ihnen was ab, aber wurscht – wahre Leidenschaft geht anscheinend nicht ohne eine Extraportion Blut, Schweiß, Tränen & Palmöl.

Im Januar dieses Jahres hatte ich ob Ethel Cains EP „Perverts“ noch gefragt, wie irgendjemand dieses Werk an textlicher und musikalischer Tiefe, an Wirkung und an authentischer Gefühlsvermittlung noch übertreffen will. Knappe sieben Monate später hat die Künstlerin selber „Perverts“ zwar nicht übertroffen, ihm aber ein ebenbürtiges und aufs Wunderbarste an „Preacher’s Daughter“ anknüpfendes sophomores Album an die Seite gestellt. Und ich denke, so eine Großtat wird ihr in diesem Jahr niemand mehr nachmachen können.