Von Matthias Bosenick (06.11.2015)
Ein in vieler Hinsicht spannender Film ist „Embrace Of The Serpent“: Das südamerikanische Zwei-Stunden-Werk zeigt zwei Handlungen parallel, die sich zeitlich versetzt um einen Schamanen aus dem Urwald drehen, der jeweils einem weißen Forscher bei dessen Suche hilft. Dafür überqueren sie jedes Mal dieselbe Strecke auf dem Amazonas. Man verfolgt dabei die Entwicklung, wie sich der Urwald und der vermeintlich aufgeklärte Westen Anfang bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zueinander verhielten. Das Ergebnis ist optisch ansprechend in Schwarzweiß gehalten und pendelt inhaltlich zwischen poetischen Betrachtungen, philosophischen Auseinandersetzungen und unmenschlichen Handlungen. Die Kulturen begegnen sich hier auf Augenhöhe; der „Wilde“ ist dem „Weißen“ nicht per se unterlegen, sie sind gleichwertig und gleichstark, das macht es noch angenehmer, diesen Trip zu begleiten.
Der Handlung zu folgen, ist nicht immer ganz so einfach, nicht nur wegen der zweifachen Zeitebene, sondern auch wegen der unzähligen Sprachen und der uneuropäischen Mythologien und Kulturen, mit denen man sich zunächst arrangieren muss und die bisweilen im Aufeinanderprallen zu Auseinandersetzungen führen. Letztlich sind es aber meistens die Errungenschaften der Zivilisation, die die meiste Unfassbarkeit produzieren. Natürlich. Der Film schildert dies aber nicht mit der erhobenen Zeigefinger, sondern vermittelt den Eindruck von furchtbarer Wahrhaftigkeit als Fakt, als Kulisse quasi. Die Brutalität der Conquestadores und deren Folgen zeigen sich wie nebenbei, nicht zwingend als Sujet.
Der Schamane heißt Karamakate. In der ersten Erzählzeit begleitet er 1909 widerwillig den deutschen Forscher Theo und dessen zivilisierten indigenen Gehilfen Manduca. Theo ist todkrank, als Lohn für seine Rettung will er Karamakate zu dessen ausgestorben geglaubten Stamm führen. 1940 dann begibt sich der US-Forscher Evans mit Karamakates Hilfe auf die Spuren Theos und angeblich auf der Suche nach einer seltenen heiligen Pflanze, tatsächlich jedoch mit für die Indios furchtbaren Absichten. In beiden Fällen entspinnen sich philosophische Dialoge zwischen den Kulturen, jeweils aus unterschiedlichen zeitlichen Blickwinkeln und Erfahrungshorizonten. Die Themen drehen sich um Besitz, Geld, Mythos, Religion, Respekt vor der Natur, Sinn der Wissenschaft, Lasten des Lebens und Freundschaft. Zwischendurch kommt es zu handfesten Auseinandersetzungen, als die verschiedenen Betrachtungsweisen in Konfliktfällen aufeinandertreffen. Ihren Weg setzen die unterschiedlichen Gespanne jeweils dennoch fort.
Gelungen sind die Übergänge zwischen den Zeiten: Der Betrachter gleitet mit den Charakteren auf dem Wasser durch die Jahrzehnte. An der Ausstattung sind die Unterschiede kaum auszumachen, da es außer den Booten und etwas Gepäck keine Ausstattung gibt. Selbst die brutalen und durchgeknallten Szenen in der katholischen Station könnten ebenso gut heute wie vor 100 Jahren spielen. Interessant ist dabei, dass der Film bis auf eine späte Drogensequenz in Schwarzweiß gehalten ist; zwar sind die Bilder beeindruckend, aber sie wecken latent die Sehnsucht nach Farbe. Trotzdem sind sie schön, wenngleich sie nicht auf schwarzweißem Film gedreht sind, sondern sichtbar digital. Für die Geschichte ist die Farbwahl jedoch passend.
Vorlagen für die beiden Forscher waren Theodor Koch-Grunberg und Richard Evans Schultes. Deren Aufzeichnungen bilden die Grundlage für die Story um Karamakate. Die Charaktere bergen hier interessante Aspekte: So ist Evans unterschwellig von Geldgier getrieben und entpuppt sich Theo als den Urwaldstämmen näher stehend als Karamakate. Ein schöner Film, mit ebenso viel Tiefgang, wie ihn der Amazonas hat. Eine Perle, eine Besonderheit, unaufgeregt, aber dennoch aufregend.