Von Matthias Bosenick (11.12.2014)
Erst hört man sechs Jahre lang von den Einstürzenden Neubauten keinen Ton, und zwar nachdem sie ihr wegweisendes Supporters-Projekt als gescheitert betrachten mussten (wobei den Supporter ärgerte, dass die exklusiven Download-Extras später als „Jewels“ auch auf CD veröffentlicht wurden und somit keine Extras mehr blieben), und dann befassen sie sich musikalisch mit dem allseits medienüberfütternden Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Doch gottlob fegen die neuen Feuilletonslieblinge alle Bedenken beiseite: „Lament“, die Umsetzung eines Projektes über den Fall von Diksmuide, Belgien, von ebenjener Kommune als Performance in Auftrag gegeben (und damit quasi ein Schwesterwerk zu „Ypres“ von den Tindersticks), ist ein Album, das sowohl als eigenständiges Werk im Neubauten-Oeuvre besteht als auch dem Reigen der in ihrer Qualität weit voneinander abweichenden WWI-Veröffentlichungen etwas Nachhaltiges hinzufügt.
Los geht es mit einer milden Form dessen, was man womöglich erwartet, wenn man von dieser Kombination weiß: Die industriellen Einstürzenden Neubauten vertonen das Thema Erster Weltkrieg. Der Kriegsausbruch erschallt hier nämlich nicht mit infernalischem Lärm, sondern lediglich als eine Art Kratzen von Metall auf Metall, das sich zu einem Brausen kumuliert und in einem „Hurrah“ mündet, mit dem nationalistische Kriegstreiber den Nicht-Ausbruch (schließlich, so das Booklet, könne der Krieg nicht ausbrechen, war er doch nicht gefangen oder angekettet) begrüßten. Daran schließt sich zur Melodie von „Heil dir im Siegerkranz“ eine überraschend unpeinliche Verballhornung damaliger Nationalhymnen zusammen, die Blixa Bargelds Humor unterstreicht und damit eine Komponente in die WWI-Aufarbeitung einbringt, die recht alleinstehend ist: den Humor, allerdings nicht despektierlich, sondern dem Thema angemessen respektvoll, also eher satirisch. Genau dort an schließt ein Briefwechsel von „Willy“ und „Nicky“, also Kaiser Wilhelm und Zar Nikolaus, von Bargeld mit vom Vocoder verfremdeter Stimme rezitiert und mit Neubauten-Percussion untermalt. Von dort aus geht es in den ernsten und kritischen Teil über, in dem die Neubauten zwar nichts beschönigen oder verharmlosen, aber es dennoch vermeiden, etwa mit profanen Mitteln Gefühle von Kriegsschuld einzufordern.
Die Musik auf „Lament“ versucht nicht, die „Kriegsmaschinerie“ (Titel des ersten Stückes) akustisch abzubilden. Man bekommt also keine metallischen Explosionen wie Granatsplitter um die Ohren geschlagen. Das wäre zu profan, und das sind die Neubauten nicht. Ihre Herangehensweise ist subtil, das steht ihnen inhaltlich wie musikalisch gut. Eine akustische Milde vertreten die Neubauten mindestens seit „Ende Neu“ 1993, diesen Kurs setzen sie auch hier fort, auch mal mit Streichern. Man kann auch musikalisch milder noch hoch energetisch sein, das funktioniert mit Metal ebenso gut wie mit Metall. Selbst die „Percussion Version“ von „Der 1. Weltkrieg“, ein dreizehnminütiger historischer Abriss, bildet die Daten nicht akustisch, sondern lediglich in Worten ab, begleitet von rhythmischen Geräuschen, die die Neubauten auf Kunststoffrohren erzeugen – und den Hörer damit sogar in eine Art Trance versetzen. Dennoch, frei vom Industrial sind sie nicht; der Teil „Abwärtsspirale“ des dreiteiligen Titelstücks etwa erinnert stark an frühe wuchtige Swans.
Die Worte sind auf „Lament“ ohnehin wichtig. Mit Blick auf den Auftraggeber setzen die Neubauten auch flämische Texte um, wie „In de Loopgraaf“ („Im Schützengraben“) oder „Achterland“ („Hinterland“). Sie performen mit „On Patrol In No Man’s Land“ und „All Of No Man’s Land Is Ours“ zwei Lieder der Harlem Hellfighters, einem US-Infanterieregiment bestehend aus afroamerikanischen Soldaten. Sogar Pete Seegers „Sag mir wo die Blumen sind“ in der Übersetzung von Max Colpet setzen sie um, als drittletzten Track – eine weitere Hürde, die „Lament“ von Peinlichkeit trennt, denn wie die Neubauten dieses Lied bringen, ist es frei vom Flower-Power, den man zuletzt von dem Song im Ohr hatte, und klingt vielmehr wie ein eigenes Stück. Hat man das wohlwollend vernommen, sieht man sich mit der letzten akustischen Herausforderung konfrontiert: Bargeld performt „Der Beginn des Weltkrieges 1914 (dargestellt unter Zuhilfenahme eines Tierstimmenimitators)“ von Joseph Plaut aus dem Jahr 1926. Ja, er performt, denn er imitiert die vorgegebenen Laute der Tiere, die das Kriegsvokabular aufgreifen, in einer eher beunruhigenden und damit zum Konzept passenden Weise. Zunächst startet das Stück rein mit Bargelds Stimme, perkussive Geräusche gesellen sich erst später dezent dazu. Ein Vorteil übrigens an den Fremdkompositionen auf diesem Album ist, dass Bargeld nicht in die langweiligen Zwei-Töne-Melodien verfällt, auf die er seit einigen Jahren so gern zurückgreift.
Das Gesamtergebnis ist also nachgerade grandios. Nicht peinlich, nicht vorhersehbar, nicht langweilig, nicht schlichte Kunst, nicht schlechter Krach. Die Avantgarde hat das Feuilleton erreicht, die Neubauten sind verlustfrei erwachsen geworden. Und trotzdem albern geblieben: Auf Promofotos zu diesem Album zeigen alle fünf Musiker die Merkel-Raute.