Von Guido Dörheide (15.02.2024)
Heute Morgen fuhr ich mit dem Fahrzeug auf der A 36 gen Süden, um kurz nach 6, und die Straße war voller Autos. Eigentlich zu viele für diese Uhrzeit. Kurz vor Braunschweig war dann alles wieder normal, kaum Verkehr und das Einfädeln am Kreuz Süd in Richtung Tangente ging trotz Baustelle problemlos. „Zum Glück sind die alle nach Wolfenbüttel abgebogen“, dachte ich bei mir, und dann „Wäh? Was wollen die alle in aller Hergottsfrühe in Wolfenbüttel? Ausgerechnet?“ Erst am Abend fällt mir ein: Heute ist der 243. Todestag von Gotthold Ephraim Lessing, also fuhren alle in die Lessingstadt, um dieses Ereignis gebührend zu begehen. Rätsel gelöst.
Besser wäre es allerdings gewesen, nicht morgens nach Wolfenbüttel, sondern – wie ich – abends nach Braunschweig zu fahren, denn wie in jedem Jahr lud das Literaturzentrum des Wilhelm-Raabe-Hauses auch in diesem Jahr wieder Interessierte ein, dem stadtbekannten Bibliothekar, Dichter, Glücksspieler, Schwerenöter und Frühaufklärer – bekannt und beliebt aus dem Deutschunterricht – zu huldigen, und zwar in Anwesenheit des Braunschweiger Autors Hardy Crueger. Wie immer las Crueger seinen Text „Einfach G.E.L.“ (erschienen als Anhang zu Cruegers Buch „Der Mord an Sara Sampson“) vor, Schauplatz war diesmal die Buchhandlung Benno Goeritz in der Breiten Straße in Braunschweig. Hier liest Crueger regelmäßig aus seinen Werken und hier kann man sie auch kaufen, im Normalfall sind alle lieferbaren Titel vorrätig.
Bereits lange vor 19 Uhr ist die Buchhandlung bis auf den letzten Platz gefüllt, Stefan und Marianne Hallensleben schenken Wein und Wasser auf Kosten des Hauses aus und bis zur Ankunft des Literaten erzählt Stefan Hallensleben Interessantes zum Veranstaltungsort. Wie es der Zufall will, ist heute nicht nur Lessings 243. Todestag, sondern auch das 154. Gründungsjubiläum der Buchhandlung Benno Goeritz. Hallensleben zeigt ein Bild des Namensgebers (der mit seinem Bart sowohl Turnvater Jahn als auch Billy F. Gibbons alle Ehre machen würde) und klärt auf, dass die Buchhandlung ursprünglich nicht in der Breiten Straße, sondern in der Münzstraße beheimatet war. Dortselbst waren 17 Mitarbeitende beschäftigt und zum Geschäft gehörte ein eigener Verlag, in dem beispielsweise 1930 der braunschweigische „Bildführer aus der Vogelschau“, ein Band mit zeitgenössischen Luftaufnahmen von Braunschweig, herausgegeben wurde. Eine Kopie davon gibt es bei Benno Goeritz zu sehen. In der jetzigen Buchhandlung war früher das Wegnersche Kaffeehaus untergebracht. Für einen Kaffeeausschank ist jetzt kein Platz mehr, die Buchhandlung ist bis zum letzten Quadratzentimeter mit Büchern angefüllt und lädt zum Verweilen und Herumstöbern ein. Zu Letzterem heute allerdings nicht, denn zusätzlich zu den allgegenwärtigen Bücherregalen sind heute zahlreiche Reihen Klappstühle aufgestellt, auf denen das Publikum dem, was es erwartet, entgegenfiebert. So auch ich und mein Freund Sebastian, der als Deutschlehrer ja sozusagen vom Fach ist, wenn es um Gotthold Ephraim Lessing geht.
Punkt 19 Uhr betritt Crueger den Veranstaltungsort, schlüpft im Nebenraum in die Rolle Lessings (optisch bleibt es bei blauen Jeans und schwarzem Pulli, aber die nach heutigen Maßstäben blumige Sprache macht deutlich, mit wem wir es hier gleich zu tun bekommen) und begrüßt dann das Publikum auf französisch und englisch. Von sich selbst redet Lessing in der Vergangenheit, das ist mir beim Lesen des Textes und auch bei der letztjährigen Veranstaltung (an Lessings Geburtstag in der KaufBar) gar nicht aufgefallen, erzeugt aber einen interessanten Effekt. Hier redet sozusagen ein Toter über sein Leben. Und das war ein bewegtes, Lessing ist oft umgezogen (immer auf der Flucht vor seinen spielschuldenbedingten Gläubigern), hat viel Bildung in sich aufgenommen, noch mehr geschrieben, zahlreiche Arbeitsstellen angenommen (beispielsweise in Berlin bei der Vossischen Zeitung, wo er für „Das neueste aus dem Reich des Witzes“ zuständig war). Lessing schrieb nicht nur die bekannten Lektüren aus dem Deutschunterricht, sondern auch Fabeln und schlüpfrige Gedichte, von denen Crueger einige zum Besten gibt. Sie kommen beim Publikum hervorragend an, bei Lessings Vater, einem Geistlichen, taten sie das nicht.
Lessing ging schließlich dazu über, Theaterstücke zu schreiben (Emilia Galotti, Miss Sara Sampson und Nathan der Weise gehören zu den bekanntesten Theaterstücken weltweit), um die Menschen zum Denken anzuregen, ihnen die wahren Tugenden aufzuzeigen und sie dadurch besser und vor allem toleranter zu machen. Diesen Zweck verfolgt er auch mit seinem philosophischen Hauptwerk „Die Erziehung des Menschengeschlechts“.
In Hamburg lernte er Eva König, die Ehefrau seines Freundes, des Seidenfabrikanten Engelbert König, kennen. Engelbert starb 1769, aus der Freundschaft zwischen Eva und Lessing wurde Liebe, 1770 nahm Lessing eine Stelle als Bibliotheksdirektor in Wolfenbüttel an, die beiden führten eine jahrelange Fernbeziehung, heirateten 1776, Eva zog zu Lessing nach Wolfenbüttel und 1777 verlebte Lessing das nach seinen Angaben glücklichste Jahr seines Lebens. Das allerdings nicht glücklich endet: Am 25. Dezember bringt Eva den gemeinsamen Sohn Traugott zur Welt, der noch am selben Tag stirbt, wenige Tage später stirbt Eva am Kindbettfieber.
Es ist erstaunlich, wie viele Stationen aus Lessings Leben Hardy Crueger in seinem einstündigen Vortrag präsentiert, eine davon ist der „Fragmentenstreit“ mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, den ich jetzt hier nicht weiter ausführen möchte, da ich es bereits im letzten Jahr tat. Crueger ist hauptsächlich als Krimi- bzw. Thrillerautor bekannt, mit „Der Flussmann“ hat er im vergangenen Jahr einen der besten Thriller des Jahres veröffentlicht, aber auch historische Themen liegen ihm sehr gut, was die heutige Lesung eindrucksvoll unter Beweis stellt. Wer sich weiter mit historischen Themen aus Hardy Cruegers Feder beschäftigen möchte, dem sei „Der Herzog, der Räuber und die Tochter des Goldschmieds“ empfohlen (bei der Recherche zu diesem Roman begann Crueger, sich detailliert mit Lessing zu beschäftigen) oder „Der andere Krieg – Die Odyssee des Victor Rosenfels“.
Und wer dringend etwas zum Lesen braucht, aber noch keine Idee hat, welches konkrete Buch es sein soll, die/der gehe bitte in die Buchhandlung Benno Goeritz und beschreibe kurz, was sie/er gerne liest. Sie/er wird mit viel Herzblut vorgetragene Empfehlungen erhalten und das Geschäft mit einem Armvoll wunderbarer Bücher wieder verlassen.
Vielen vielen lieben Dankeschön an Hardy Crueger für einen wunderschönen literarischen Abend, an die Familie Hallensleben für den würdigen Rahmen und die exzellente Bewirtung und an das Literaturzentrum des Wilhelm-Raabe-Hauses dafür, den Besuch eines so schönen Events kostenfrei zu ermöglichen. Und das – wie Dinner for One – Jahr für Jahr immer wieder. Eine Dame im Publikum erzählte begeistert, dass sie bereits zum vierten Mal in Folge dabei war, und das kann ich gut nachvollziehen.