Von Matthias Bosenick (04.01.2015)
Die „Taube“ ist kaum weniger als eine Offenbarung für das zeitgenössische Kino. Weil der Film gleichzeitig auf alte europäische Qualitäten zurückgreift und etwas Neues, auf jeden Fall absolut Einzigartiges schafft – das zudem auch noch gefällt und sich nicht nur in unverständlichen Experimenten verirrt. Formal fällt auf, dass jede Szene mit einer Steadycam gefilmt ist, also wie eine Theaterbühne wirkt, und dass optische und verbale Wiederholungen mehr Strukturen schaffen als die reduzierte Handlung. Es ist schwer, zu verallgemeinern, worum es in dem Film geht. Irgendwie um das Leben, sicher. Ein großes Qualitätsmerkmal ist, dass nach dem Kinobesuch jeder Zuschauer mit einer anderen Lieblingsszene aufwartet, die ihn stark berührt hat.
Der Film erscheint wie Stückwerk, wie eine Aneinanderreihung von Einfällen. Dabei gestaltet Andersson jede Szene wie eine Bühne, die Kamera nimmt dort die Position eines Theaterzuschauers ein, der sich während einer Aufführung nun mal nicht bewegen kann. So finden alle agierenden Personen Platz in den höchst ästhetisch komponierten Bildern. Die Leinwandgrenzen werden dabei selten durchbrochen; wer die Szenerie verlässt oder betritt, tut dies durch eine Tür oder um eine Hausecke herum, die im Bild zu sehen sind. So sind die Bilder zwar eindeutig Ausschnitte von etwas Größerem, haben aber klare Grenzen. Die große Kunst daran ist, dass trotz sich gelegentlich minutenlang nicht ändernden Bildes niemals Langeweile aufkommt, denn Andersson generiert Details, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen. So wirkt der Film wie eine Aneinanderreihung von animierten Edward-Hopper-Bildern.
Tristesse ist dabei Methode, sowohl in der Farbgebung als auch in der Charakterzeichnung und im Dialog. Dennoch sind es besonders die Dialoge, die hier punkten. In ihrer skandinavischen Schlichtheit transportieren sie die stoisch-ignorante Seele des Homo Sapiens. Bei aller gezeigter Tragik liegt genau darin so viel Humor, dass man den Film gerne als Komödie auffasst.
Dazu kommen die vielen Szenen, die so weitab von der Realität liegen, dass man eine Weile braucht, um sie selbst im Rahmen des Filmes zu akzeptieren. Wie die schwedische Armee des Dreißigjährigen Krieges während ihres Russlandfeldzuges mit König Karl XII. hoch zu Ross ein Café stürmt, die Frauen verjagt, einen Glücksspieler auspeitscht und den jungen Kellner als Gespielen des Königs entführt, während die zwei als Hauptfiguren erkennbaren erfolglosen Scherzartikelverkäufer gerade die Maske von „Gevatter Einzahn“ vorführen, und dann später geschlagen in das Café zurückkehrt, in dem jetzt nur noch Frauen sitzen, die alle zu weinen beginnen, als ihnen der Wirt offenbart, dass sie nun Witwen seien, und der aller Glorie beraubte König Karl nicht aufs Klo kann, weil das besetzt ist – das muss man erst verarbeiten und sich darauf einlassen.
Die vom Leben gebeutelten Scherzartikelverkäufer stellen den roten Faden dar, auf sie kommt Andersson am häufigsten zurück. Der eine geht bald an Krücken, der andere ist eine weinerliche „Heulsuse“, wie der Kollege abfällig feststellt. Und doch kommen die beiden, ähnlich wie in „Indien“ von Paul Harather aus dem Jahr 1993, nach ihrer erfolglosen Odyssee zu der Erkenntnis, bei allen Differenzen doch nur noch sich gegenseitig als Freunde zu haben.
Weitere Figuren lässt Andresson ebenfalls mehrmals erscheinen. Da gibt es den Kapitän, der sich mobiltelefonierend in seinen Terminen irrt, das Kro in Göteborg mit seiner Besitzerin, die Flamencolehrerin, die von ihrem Schüler abserviert wird. Eine Figur spricht als einzige mit dem Zuschauer, jedes Mal mit dem Gag, dass die sich im Raum befindlichen Personen darauf reagieren, als wäre es kein Film, sondern der Sprecher ein Idiot. Der Hausverwalter des Wohnheims, in dem die Handelsreisenden leben, sagt ständig verärgert über Lärm: „Andere müssen morgen arbeiten.“
Weitere Wiederholungen gestaltet Andersson über wiederkehrende Dialoge. Ständig sieht man Personen am Telefon nicken und „hm“ sagen, und dann, „es freut mich, zu hören, dass es euch gutgeht“. Meistens sind dies Personen, die mit der Handlung nichts zu tun haben, etwa eine Putzfrau in der Tanzschule, ein Ehepaar in einer Küche, ein Geschäftsmann in seinem riesigen Büro mit einer Waffe in der Hand, eine Frau in einem Labor neben einem Affen, der unablässig Elektroschocks bekommt. Auch die Musik steuert Wiederholungen bei, nicht nur das Hauptthema, auch singen die Kro-Besitzerin und die Soldaten ein Lied zur selben Melodie. Und: Die titelgebende Taube sieht man am Anfang in einem naturhistorischen Museum und hört sie später über den Film verstreut im Hintergrund gurren.
Und dann gibt es die Szenen, die scheinbar losgelöst von allem stehen. Ein Paar steht am Fenster und raucht kuschelnd. Eine Mutter sitzt auf einer Parkbank und spielt mit ihrem Baby. An einer Bushaltestelle warten Menschen, während ein Fahrradladenbesitzer bemerkt, es sei schon wieder Donnerstag, und die Wartenden darüber diskutieren, ob man einen Wochentag fühlen kann, weil einer von ihnen dachte, es sei bereits Freitag. Völlig verstörend ist die Szene, in der Kolonialsoldaten schwarze Eingeborene in einen Metallzylinder mit Trompeten sperren und darunter eine Flüssigkeit anzünden, woraufhin der Zylinder rotiert und wunderschöne Töne von sich gibt. Dabei scheint es sich um den Traum eines der Scherzartikelverkäufer zu handeln, der aufgebracht die Frage stellt, ob es recht sei, für das eigene Vergnügen andere schlecht zu behandeln, woraufhin der Hauswart sagt, nicht um diese Uhrzeit, andere müssten am nächsten Tag arbeiten.
Und das waren nur wenige Beispiele, der Film ist voll von solchen Szenen und Situationen. In seinem Mix aus Unbestimmtheit und Konkretheit entlässt er den Zuschauer gleichzeitig mit vielen Fragen und Antworten aus dem Kino. Diese Nachhaltigkeit trägt zu dem Eindruck bei, einen besonderen Film gesehen zu haben. Als aufgeklärter rationaler Mensch sucht man zudem nach den Verbindungen zwischen den Sequenzen. Man setzt voraus, dass Andersson sich bei allem etwas gedacht haben muss, damit man nicht das Gefühl der künstlerischen Willkür mit sich herumtragen muss. Wir auch immer, man hat einen großartigen Film gesehen.
Dabei handelt es sich übrigens um den letzten Teil einer Trilogie. Teil eins war im Jahr 2000 „Songs From The Second Floor“, Teil zwei 2007 „Das jüngste Gewitter“. Die muss man wohl nacharbeiten, „Eine Taube“ empfiehlt das ausdrücklich.