Eartrumpet & Mystified – Eartrumpet & Mystified – Treetrunk 2023

Von Matthias Bosenick (27.02.2023)

Wenn Wissenschaft zu Kunst wird: Trompeter Roger Mills alias Eartrumpet improvisiert zu Sounds, die Thomas Park alias Mystified mit einem selbstprogrammierten Algorithmus aus Field Recordings generierte. Aus diesem artifiziellen Ansatz entsteht eine organische EP mit vier Tracks, die auf Ambient basieren und den Jazz transportieren. Die Stimmung ist dunkel und erinnert an Soundtracks experimenteller Filme, die man sich – allein schon der großartigen Musik wegen – unbedingt angucken möchte.

Der Soundtrack-Eindruck entsteht sofort mit dem ersten Track „Tryst“: Eine filigrane Soundlandschaft eröffnet die EP, Mills trompetet dazu langgedehnt, dann setzen punktuelle Melodiefragmente ein, später kommen Noisesounds dazu. Alles im langsamen, gemächlichen Tempo, Roberto Benigni irrlichtert dazu durch einen schwarzweiß gefilmten Sumpf. Mit der wie in spätnächtlicher Jazzbar gespielten einsamen gestopften Trompete rückt Mills im zweiten Track „Beatle Juice“ in den Vordergrund, Parks Horrorfilmsoundscapes bilden dazu eine beängstigende Tapete. „Still Life“ könnte einem minimalistisch orchestral unterfütterten Melodram entnommen sein, in all der Verfremdung fällt es dem Laien schwer, überhaupt ein Blasinstrument herauszuhören. An ein tiefdunkles Meer mit ungewissem Seegang führt abschließend „Esrom“, mit apokalyptischen Sounds als Basis, die wellenartig die Tonhöhe ändern, sowie mit bei Jean-Michel Jarre ausgeborgten Synthieeffekten darüber. Auch hier tritt ein Blasinstrument nicht in vertrauter Manier in Erscheinung. Mit Akkordverschiebungen erzeugt das virtuelle Duo sogar so etwas wie Seekrankheit, erstaunlich. Rückwärts gespielt heißt das Stück „Morse“ und beinhaltet vermutlich den SOS-Funkspruch eines in Seenot geratenen Schiffes. Und Möwen als Begleiter.

Um das ganze Ausmaß dieser wunderschönen Musik zu erfassen, muss man in die Eingeweide gehen. Man kann die EP selbstredend auch einfach nur genießen, aber die Hintergründe sind schon erstaunlich: Die Basis bilden Sounds, die Park als Field Recordings erstellte, als Musique Concrète gewissermaßen, und diese Snippets ließ er von seinem selbstprogrammierten Algorithmus verfremden, und zwar so stark, dass ihr Ursprung nicht mehr erkennbar ist. Dies nennt er „Acousmatic Concept“, und weil Mills als Universitätslehrer zum Zeitpunkt des virtuellen Kennenlernens über Pierre Schaeffer referierte, entbrannte sein Interesse an Parks Ambient sofort. Der in einem Remix erste gemeinsame Früchte trug, denn Park bearbeitete auf seine Weise einen Track des Ethernet Orchestra, dem weltweit agierenden virtuellen Netzwerk an Impromusikern, dem Mills vorsteht. Das ebnete den Weg für diese EP, für die Park vier Algorithmusfiles an Mills schickte, die jener seinerseits mit Field Recordings und verfremdeter Trompete bearbeitete. Nur Banausen hören lediglich einen Haufen Geräusche, da stecken ordentlich Arbeit, Improvisation, Musikverständnis und Wissenschaft drin.

Guckt man in die Biografien beider Musiker, wird man mit einem doppelt opulenten Oeuvre erschlagen. Thomas Jackson Park aus San Francisco startete in den Achtzigern mit Jazz, elektronischer Musik und Techno, bevor er beim Ambient landete. Zu finden ist er unter AutoCad, Mister Vapor, DJ_Frankenstone, DJ_Iterate, Grid Resistor, Model 201, A Cryo Chamber Collaboration, FutureLight, Oriondrive, Paiyatuma und Tone Brothers, vermutlich ist diese Liste noch unvollständig, und zuzüglich Mystified geht die Zahl der jeweiligen Veröffentlichungen ins Unendliche. Was ein Output! Eartrumpeter Roger Mills aus Sydney gestaltete in den Neunzigern in England den Trip Hop mit, vertont Filme, Tanztheaterstücke und Radioperformances und betreibt das weltumspannende Ethernet Orchestra. Zu früheren Projekten gehören Eludea, Limbo, Nada, Sawtooth, Spaceways, Statik Sound System und Vine. Also zwei äußerst umtriebige Charaktere, die sich offenbar irgendwann einfach finden mussten – hoffentlich bleibt diese EP nicht die einzige gemeinsame Arbeit.