Von Matthias Bosenick (06.09.2019)
Sobald man ein neues Album von DR alias Dominic Razlaff aus Braunschweig besprochen hat, sind schon wieder drei Dutzend weitere draußen. Sei der sich anbahnende Herbst nun also der Anlass, sich mit dem Juli-Album „Melancholie“ auseinanderzusetzen, das der Ambient-Drone-Künstler als Tape und Download anbietet. Seine akustische Umsetzung des Themas beginnt und endet themengemäß, doch lässt die im Verlauf folgende Vorstellung von „Melancholie“ erahnen, dass diese bei DR einen latenten Hang in Richtung Depression hat, mit einem Anteil zwischen manisch und aggressiv, also alles andere als süß. Überraschend.
„Erster April“,
der Titel des ersten, zwölfminütigen Tracks, klingt nun nicht
gerade nach Herbst, das Stück selbst aber sehr wohl nach
„Melancholie“. In klassischer DR-Art baut sich ein melodie- und
rhythmusloser Drone auf, der die Seele auf das Thema bestens
einstimmt. Doch bereits mit dem nächsten Track, dem knapp
sechsminütigen „Mannong Pu Erh“, setzt DR unerwartete Akzente:
Man hört ein verfremdetes Saiteninstrument, schleppend vorgetragen
und vermutlich rückwärts gespielt, eingebettet in eine
Ambientatmosphäre, und dazu im Hintergrund gelegentliches
Kindergeschrei. Das gespielte Instrument verleiht dem Track eine
Struktur, die die Stücke von DR ansonsten eher selten haben; das ist
die erste Überraschung auf diesem Album. Der Track, ansonsten sanft
wie der titelgebende Tee, endet mit einem überdrehten Schreisample,
das den Hörer so richtig aus seinem Gedankenfluss herausrüttelt.
Dieser Ton bildet eher latente Aggressionen ab als die süßliche
Stimmung einer Melancholie, er berührt unangenehm, löst Beklemmung
aus; diese Schwermut bedrückt, DR bringt zum Ausdruck, wie
gefährlich es sein kann, sich in vermeintlicher Sicherheit zu
wiegen, wenn man sich in seine Melancholie bettet und kein Interesse
daran hat, die Sonne wieder in die Seele zu lassen.
Doch
das ändert sich bereits mit dem nächsten Track. Das zehnminütige
„Luftschloss“ hat ebenfalls ein Saiteninstrument als Basis, aber
deutlich reduzierter gespielt, jazzartig mehr Lücken lassend als
Melodien erzeugend. Die Saiten schwingen nach und erzeugen damit den
für DR typischen Drone, ohne dass er diesen Ton für Laien hörbar
verfremden muss. Das tatsächliche Sample bleibt vermutlich dennoch
sein Geheimnis und wäre, sobald entschlüsselt, wohl eine
Überraschung; zu tippen wäre hier auf Ukulele, also etwas gänzlich
nicht danach Klingendes. Was DR mit diesem Sound errichtet, kann man
sich in der Tat als Luftschloss imaginieren; der Blick geht in den
Himmel, der mit dezenten Wolken bedeckt ist, in denen man ähnliche
Dinge erkennen kann wie in dieser Musik. Der depressive dunkle Punkt
ist vorerst überwunden.
Die letzten zehn Minuten gehören
dem Titeltrack, der wiederum auf mehreren Dronetönen basiert. Diese
gestalten sich zunächst dunkler, als man sich eine Melancholie
ausmalt, und tragen also eher Züge einer Depression, einer
ungesunden Entwicklung jener Stimmung mithin. Wie schon beim Opener
lässt sich die Quelle für die dröhnenden Töne nicht ausmachen.
Mit dem Wissen, dass DR gern Field Music einsetzt, aber eben auch
echte Instrumente sampelt, lässt sich die Fantasie bestens anregen,
wie er diesen Track nun zuwege gebracht haben mag; man kann sich aber
auch einfach in die Atmosphäre fallen lassen, die auf Dauer ihre
Dunkelheit verliert und sogar eine unbestimmte Melodiösität
zulässt. Sobald die Drones verklingen, spuckt einen das Album zurück
in die Realität. Da könnte man glatt melancholisch werden.
Dieses
Album erscheint bei dem Londoner Label Rusted Tone Recordings auf
Kassette. Der labeleigene Künstler Matt Atkins gestaltete das
abstrakte Cover, das ein von einem Holzuntergrund abblätterndes
buntes Graffito zeigt. Auf DRs Bandcamp-Seite gibt’s „Melancholie“
auch als Download, ebenso die neueren drei Dutzend Alben. So ein
Output auf solch hohem Niveau, das ist beachtlich!