Von Guido Dörheide (29.11.2023)
Chefvisite – jetzt auch in Hannover. Seit 2004 verkörpert Olli Dittrich den letzten Universalgelehrten und Hamburger Alltagsphilosophen Dittsche – stets in einen gestreiften Bademantel und ebensolche Latschen („Schumiletten“) gewandet und mit dem bundesdeutschen Pendant zum Billa-Sackerl, gefüllt mit Leergut, bewaffnet. Ich bewundere seine – komplett improvisierten und vom WDR televisierten – Auftritte in Ingos Imbiss, der Eppendorfer Grill-Station, und hätte es mir nie träumen lassen, dieses Original einmal live zu sehen.
Vor einigen Wochen fragte mich mein Kollege Carsten, ob ich Dittsche möge, und als ich diese Frage bejahte, verkündete Carsten, dass sein Bruder ihm zwei Eintrittskarten für Dittsche im Theater am Aegi geschenkt hätte und ob ich ihn vielleicht begleiten möchte. Und ja, das möchtete ich, also fuhren wir hin, im strömenden Regen und von Erkältung (er) und einem schmerzenden Fuß (ich) geplagt. Parkplatz gesucht, gefunden, zum Theater gehumpelt/gehustet, und dortselbst festgestellt, dass sich unsere gebuchten Sitzplätze in der vierten Reihe ganz außen, also quasi direkt vor der Bühne mit der Möglichkeit, den schmerzenden Fuß bequem ausstrecken zu können, befanden. Daher hier an Carstens Bruder: Ein absolutes Welt-Geschenk, gerne wieder!
Pünktlich um 20 Uhr geht es los, Olli Dittrich betritt die Bühne samt Bademantel und leergutgefüllter Aldi-Tüte und das Publikum tobt. Dittrich freut sich sichtlich ob der euphorischen Begrüßung und sonnt sich einige Minuten in ihr, ohne dabei abgehoben oder sich selbst feiernd zu wirken. Einfach nur sympathisch, der Mann, und oha – er sieht älter aus, als ich es gedacht hätte. Was aber an der quer über den Kopf gekämmten, leicht fettig anmutenden Dittsche-Haarfrisur liegen könnte und das ganz sicher auch tut: Von Anfang an nämlich ist Dittrich zu 120% bei der Sache, beim Publikum, und schießt ohne Unterlass und ohne Luft zu holen seine typischen Sabbeleien ab, dass es einem schwindelig wird.
Ist das Dittsche-Fernsehformat auch komplett improvisiert und ohne Drehbuch auf die Zusehenden und -Hörenden losgelassen, frage ich mich, ob das auch bei einem dreistündigen Live-Auftritt funktioniert. Ohne Scheiß, meine Damen und Herren – Dittrich legt mit einer nur gut viertelstündigen Unterbrechung eine Nettospielzeit von ungefähr genau drei Stunden hin! Geht das ohne Drehbuch? Nun, sicher nicht, einiges von dem, was wir hier geboten kriegen, wurde sicher vorab aufgeschrieben (wobei ebenso auffällt, dass Dittrich sich an zahlreichen Stellen vor Lachen krümmt, wenn ihm wieder mal eine Improvisation besonders gut gelungen ist, und das Publikum das frenetisch feiert), es fällt jedoch von Anfang an auf, dass Dittrich das Programm auf den jeweiligen Spielort abstellt und auch auf andere bereits bespielte Orte (Rüsselsheim, Bochum) Bezug nimmt. In Hannover sei Hamburg ein Begriff, in Bochum müsse er es dagegen als „die Stadt in der Nähe von Kiel“ ankündigen. Dafür könne man in Rüsselsheim mit dem Opel Rekord 1900 seines Nachbarn, Herrn Karger, gleich etwas anfangen. Und in Hannover? Hier nimmt der Protagonist Bezug auf ein Fernsehformat, in der junge Unternehmer/innen vor einer gestrengen Jury reüssieren oder sich blamieren sollen. „König der Löwen“. Mit einem Typen, der jedesmal anders aussieht, weil er sich die Gesichtshaut hinter dem Kopf zusammenbindet. „König der Löwen“, mit Carsten Maschmeyer. Hannöversches Lokalkolorit, unvergleichbar dargeboten und gleichermaßen seziert – das Publikum tobt zurecht vor Begeisterung.
Dittsche theoretisiert außerdem über Lesezirkel-Zeitschriften in Arztpraxen – als er „König der Frau“ als Beispiel für eine der typischen Illustrierten nennt, strullen zahlreiche Zuschauer:innen einschließlich des Rezensenten ein.
Nach gut anderthalb Stunden legt Dittrich eine viertelstündige Pause ein, danach geht es weiter mit der Zerstörung von Nachbar Kargers Badezimmer durch Dittsche, der eigentlich nur die Blumen gießen und den Briefkasten leeren sollte und im Zuge dessen eine Spur der Zerstörung in der Nachbarwohnung hinterlässt, sowie wirklich herzergreifenden Berichten über wahre Helden (Franz „Schildkröte“ Jarnach – die tatsächlich zu Tränen rührte – sowie Uwe Seeler) und zahllosen weiteren Erzählungen aus Dittsches bewegtem Leben. Zu keiner Sekunde begibt ich Dittrich auf das Glatteis, zeitgenössische Politik abzuhandeln, seine Ausführungen bleiben stets zeitlos und in ihrer tiefen Weisheit allgemeingültig. Meine Mutter mag ihn übrigens auch. Am Ende bietet Dittsche drei ellenlange Wortspiele dar, die ausschließlich aus der Aneinanderreihung von Prominentennamen bestehen und an deren Ende sich die Zuschauer fragen, wie jemand so etwas so dermaßen auf den Punkt gebracht und auf die Pointe konzentriert herunterrattern kann, ohne sich auch nur ein einziges Mal zu verhaspeln. Da bleibt mir nur eine einzig mögliche Zusammenfassung des hier Dargebotenen:
Es war Welt!!!