Die Karte meiner Träume (The Young And Prodigious T.S. Spivet) – Jean-Pierre Jeunet – F/CDN 2013

Von Matthias Bosenick (17.07.2014)

Jean-Pierre Jeunet macht also einen Kinderfilm in 3D. Vielleicht liegt es genau an diesen beiden Faktoren, aber so richtig mitreißend ist „Die Karte meiner Träume“ nicht geworden. Der Film trägt die visuell überbordende Handschrift Jeunets und birgt so manche fantastische Idee, aber reichen die Charaktere nicht, um sich ausreichend mit ihnen zu identifizieren. Zudem erfährt die reichlich vor sich hin pläzschernde Geschichte in ihrer Mitte einen wenig plausiblen Bruch. Das Ansehen lohnt sich aber, denn die Bilder sind schön.

Jeunet verfilmt mit „Die Karte meiner Träume“ den gleichnamigen Roman von Reif Larsen. Hauptfigur ist der zehnjährige T.S., der auf einer abgelegenen Farm in Montana als Wunderkind aufwächst und das Perpetuum Mobile erfindet. Um es am Smithsonian Institute vorzustellen, trampt er nach Washington, D.C. Damit stößt er eine Art Familien-Katharsis an: Sein Vater ist wortkarger Cowboy, seine Mutter abwesende Entomologin. T.S. hat einen tumben Zwillingsbruder und eine gelangweilte große Schwester. Das Drama, dass der Bruder bei einem Unfall mit dem Gewehr ums Leben kommt, an dem auch T.S. beteiligt war, arbeitet die Familie nie auf – bis zum medial ausgeschlachteten Finale.

Schön sind die Bilder, vor allem die Landschaftsaufnahmen und die Zugfahrten, wenngleich heutzutage dank CGI zwar keine Naturbilder mehr glaubhaft sind, aber immerhin beeindruckend. Schön sind auch die Ideen, die Jeunet unterbringt; das macht er nicht ganz so üppig wie gewohnt, dafür aber erstmals im Kreis: Viele zunächst absurd erscheinende Elemente erhalten im Verlauf des Films eine Bedeutung und stehen nicht mehr nur solitär als beeindruckende Spinnerei im Raume. Dafür sind die zahlenmäßig eben geringer. Und Jeunet streut sie beinahe beiläufig ein, mindestens routiniert: Selbst den 3D-Effekt nutzt er so, wie man es von ihm erwartet; er setzt nichts drauf, er überrascht selten. Als Jeunet-Fan ist man davon tatsächlich einigermaßen enttäuscht. Für Unbedarfte ist das Ergebnis natürlich trotzdem opulent und ungewohnt, denn Jeunet hebt sich ja dennoch vom Mainstream ab. Denn auch visuell bleibt er sich treu: Zwar erscheint die Ausstattung im Stil ungefähr aus Zeiten der industriellen Revolution, ist aber in der Gegenwart angesiedelt, was sich auch in beinahe futuristischen Gadgets zeigt. Und: Mit „Only Lovers Left Alive“ von Jim Jarmusch und „Nymph()maniac“ von Lars von Trier teilt dieser Film eine Leidenschaft für das Wissen. Das ist schön.

Für einen Kinderfilm unserer Zeit hat „Die Karte meiner Träume“ ein vergleichsweise geringes Tempo. Das ist an sich zwar positiv, nur variiert Jeunet das Tempo nicht, jedenfalls nicht filmisch; stattdessen schafft er teilweise abrupte Übergänge, um dann im vorherigen Tempo weiterzumachen. Auch die einzelnen Handlungselemente erscheinen auf diese Weise weniger folgerichtig als willkürlich. T.S. belügt zunächst seine Familie und die Vertreterin vom Smithsonian Institute, vielleicht einfach nur, weil er ein kleiner Junge ist, dafür aber ein hyperbegabter. Das passt nicht. Irgendwann entschließt er sich, sich doch auf die Reise quer über den Kontinent zu machen. Dabei erlebt er – eigentlich nichts. Seine spärlichen Kontakte bleiben formatlos, Inhalte werden nur knappstens angerissen. Der nächste Bruch kommt, als er die Frau vom Smithsonian Institute davon überzeugen kann, dass er wirklich der Erfinder des Perpetuum Mobiles ist: Sie mausert sich zur geld- und mediengeilen Furie. Warum auch immer. Beinahe unmotiviert thematisiert T.S. in seiner Auszeichnungsrede den Tod seines Bruders, was ein ignoranter TV-Moderator später in seiner Show ausschlachten will. Am Ende setzt es unnötige Hiebe von unerwarteter Seite und es gibt Friede, Freude, Eierkuchen. Sicher, „Die Karte meiner Träume“ ist ein Märchen, deshalb sollte man die Handlung nicht zu sehr an der Realität messen; ganz sicher aber an ihrer Plausibilität. Und die überzeugt hier nicht. Bei allem leisen Humor driftet die Handlung zudem zu oft an den Rand des Kitsches.

Die Figuren sind zu eindimensional, man kann zu ihnen keine Verbindung aufbauen. Auch zu T.S. nicht, wenngleich man dazu vermutlich ein zehnjähriges Kind fragen müsste. Immerhin sind mit Helena Bonham Carter und Dominique Pinon, der in bislang jedem Jeunet-Film mitspielt, gute Schauspieler an Bord. Dennoch, mit „Mathilde“ bildet „Die Karte meiner Träume“ die gottlob kleine Gruppe der Jeunet-Filme, die man nicht unbedingt ständig wiedersehen muss. Aber dafür gibt’s ja noch „Delicatessen“, „Alien 4“, „Amélie“ und „Micmacs“.

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