Die Jagd (Jagten) – Thomas Vinterberg – DK 2012

Von Matthias Bosenick (16.04.2013)

Man fühlt sich von diesem Film unterschwellig manipuliert. Hauptfigur Lucas sowie seine Anta- und Protagonisten agieren auf eine mit dem Mittel der Auslassung versteckte Weise verknappt, reduziert, falsch, so dass sich nur oberflächlich der Eindruck eines sich logisch entwickelnden Plots ergibt. Den Effekt auf den Zuschauer indes reduziert dieser Umstand nur bedingt: Man ist geplättet, wenn man aus dem Kino kommt. Beim Reflektieren jedoch offenbaren sich Lücken in der Authentizität der Ereignisse um den schuldlos des sexuellen Missbrauchs angeprangerten Kindergärtner Lucas (Mads Mikkelsen).

Allem voran ist es Lucas‘ Passivität, die man ihm vorwerfen will. Als ihm seine Chefin Grethe von den Vorwürfen erzählt, steckt er sie nur schluckend ein, anstatt gleich explodierend sämtliche Anschuldigungen von sich zu weisen. Natürlich kann das als Zugeständnis aufgefasst werden. Grethe selbst agiert fortan auch nicht eben gesetzeskonform: Sie engagiert einen Kumpel, der das Lucas beschuldigende Kind dümmlich ausfragt, entscheidet für sich, dass dieses als Lügnerin bekannte Kind ausnahmsweise einmal nicht lügt, und informiert stehenden Fußes Lucas‘ Exfrau und sämtliche Kindergartenletern über den angenommenen Vorfall. Natürlich startet auf diese Weise in der Dänischen Provinz eine Hexenjagd auf den Hobbyjäger Lucas, das ist recht simpel konstruiert, oder eben: dramaturgisch verknappt.

Lucas‘ persönlichster Gegner ist Theo, sein bester Freund – und Vater des lügenden Kindes. Leider ist es oft ebenjene Konstellation, die tatsächlich zu Missbrauchstaten führt, daher ist dies ein nachvollziehbarer Aspekt. Das Dorf, seine Jagdfreunde, die Supermarktangestellte, Kitaeltern, Exkollegen, neue Freundin, alle richten sich gegen ihn und erschaffen damit eine ausweglose, beklemmende, gewaltauslösende Situation. Nun ist Vinterberg aber nicht Mike Leigh, deswegen bekommt Lucas Getreue an die Seite gestellt, seinen Sohn und seinen pointiert plaudernden Schwager Bruun. Damit fühlt sich der Zuschauer einigermaßen sicher, damit ist die Stimmung nicht vollends aussichtslos. Das ist auch gut so; es wäre schlimm, wenn so ein Mensch im echten Leben keinerlei Rückhalt hätte. Jedoch ist der fürsprechende Schwager offenbar stinkreich und gebildet, im Gegensatz zu den Volksverhetzern; damit wird der Blick schon wieder gelenkt.

Als Lucas dann im Supermarkt verprügelt wird, wehrt er sich ebenfalls mit Gewalt, was eigentlich gar nicht zu seinem Naturell passt. Aber als hollywoodinfiltrierter Kinogänger ist man mit dem Thema Selbstjustiz bestens geimpft und applaudiert Lucas innerlich. Schon wieder fühlt man sich ertappt. Umso überzeugender ist hingegen die Szene in der Kirche an Heiligabend, als Lucas sich dem Dorf aussetzt und Theo an seinem Blick erkennt, dass Lucas die Wahrheit sagt.

Eine weitere Auslassung sind die Behörden. Zwar wird Lucas inhaftiert, aber wegen widersprüchlicher Zeugenaussagen freigesprochen. Grethe handelt nach eigener Aussage nach Polizeianweisung. Bruun erzählt, dass alle Kinder Lucas nach Befragungen belasten. Mehr Justiz, Betreuung, Behörden, gar Amtspsychologen, finden sich nicht, Lucas und das Dorf regeln alles alleine. Als Lucas‘ Hund getötet wird, geht er nicht zur Polizei. Auch nicht, als er verprügelt wird. Das ist unrealistisch, was dem Zuschauer aber im Rahmen der Geschichte nur unbewusst auffällt. Er ist halt das Opfer. Und das Kind, die Eltern, die Kita, das Dorf, die Gesellschaft sind die Bösen. Und obwohl Lucas ein Jahr später rehabilitiert ist, wird er das Stigma niemals los, sagt der Film, dieses Mal leider authentischerweise.

Natürlich geht es einem unschuldig des sexuellen Kindesmissbrauchs Verdächtigten genau so wie Lucas. Natürlich dreht sich die Spirale vom plappernden Kind zum fackelnschwenkenden Mob genau so. Natürlich fürchten Männer spätestens seit Marc Dutroux, sich verdächtig zu machen, wenn sie nur ihren eigenen Kindern am Kitazaun beim Spielen zusehen. Natürlich ist die Zahl der Falschverdächtigungen groß. Aber noch viel größer ist wahrscheinlich die Zahl der tatsächlichen Straftäter, die nicht auffliegen.

Dennoch: Der Plot fesselt, insbesondere wegen der enormen schauspielerischen Leistungen. Mit denen überspielen Mikkelsen und seine Kollegen die erzählerischen Untiefen. Auch das Erzähltempo passt, es wird nicht hektisch, auch bis zum Vorwurf und zur Eskalation dauert es lange, und Vinterberg übertreibt trotz allem nicht. Die Musik ist dezent eingesetzt, die Dogme95-erprobte Handkamera ebenfalls. Auch gut ist, dass es nicht darum geht, heruaszufinden, ob Lucas es nun getan hat oder nicht, weil solche Plots irgendwann die Ja- und Nein-Argumente dermaßen gleichgewichtig plausibel verteilen, dass es am Ende egal ist, ob er’s war oder nicht. Hier geht es explizit um eine Falschverdächtigung und deren Folgen. Somit bleibt der Film in Summe sehenswert und regt zu Diskussionen an.

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