Von Matthias Bosenick (09.10.2013)
Ideenreichtum 100, Handlung 5. Kinophantast Michel Gondry verfilmt den Roman „Der Schaum der Tage“ von Boris Vian aus dem Jahr 1946. Dabei will Gondry zu viel und bietet zu wenig. Trotzdem ist es okay, „Der Schaum der Tage“ wenigstens einmal gesehen zu haben. Für zweimal spricht die Neugier, herauszufinden, welche grandiosen Effekte man beim ersten Mal womöglich verpasst haben könnte, dagegen spricht, dass man kein Interesse an den Figuren und deren Schicksal entwickelt.
Die Handlung ist schnell erzählt: Mann und Frau verlieben sich, sie erkrankt und stirbt. Fertig. Damit sich daraus 90 bis 120 Minuten Film ergeben, je nachdem, ob man die französische oder internationale Fassung sieht, ist die Geschichte vollgestopft mit unterhaltsamen Sachen. Zumindest am Anfang: Mit einem surrealen und humorvollen visuellen Overkill startet Gondry den Film, optisch und akustisch angesiedlet zwischen Romanentstehungs- und Jetztzeit. Die Wohnung der Hauptfigur ist ein zwischen Häuser geklemmter Eisenbahnwaggon, angerichtetes Essen rotiert, die Türklingel wetzt durch den Raum, eine Maus hat ein eigenes Haus, der Koch ist eigentlich Anwalt und lässt sich von einem Fernsehkoch helfen, bei der Begrüßung schütteln die Menschen ihre Hände nicht, sondern drehen sie, die Menschen tanzen Chilston mit extrem langen Beinen, die Schlittschuhbahn-Ansagerin ist eine Krähe, der Pastor traut dasjenige Paar, das beim Seifenkistenwettrennen am Altar gewinnt und und und. Hauptfiguren sind der wohlhabende Colin und seine Flamme Chloé. Colins Freund Chick steht auf den Schriftsteller Jean-Sol Partre (jaja!) und lässt dafür seine Freundin Alise emotional darben. Der Koch Nicolas fungiert als kurioser und sympathischer Handlungsvorantreiber und Kommentator.
Anfangs also kommt man aus dem Lachen und Staunen nicht heraus. Auch die Dialoge sind einfallsreich, Nicolas verabschiedet sich etwa von Chloé in einem Zug mit den Worten: „Mein Bahnsteig wartet.“ Sozialkritik gibt es, sobald Colin eine Arbeit sucht („Sie sind ein Faulenzer, wollen Sie hier etwa Chef werden?“) und bei einer Rüstungsfirma Waffen ausbrütet. Doch als Chloé erkrankt, kippt Gondry den Film vom Surrealen in die Realität. Die Ideen werden weniger, die Farben auch, und Gondry begeht diverse Fehler. So nimmt man zunächst sämtliches Surreales als gegeben hin, doch löst Gondry die Absurditäten nicht auf und verknüpft sie nicht, sobald der Film ins Reale gleitet. Zum Beispiel erkrankt Chloé, als eine Schneeflocke in ihren Körper eindringt und ihr Herz einfriert. Ihre Erkrankung selbst ist jedoch später, dass sie eine Seerose in der Lunge hat. Das hat nichts miteinander zu tun.
Die visuelle Kirmes unterbindet leider die Möglichkeit, dass man sich mit den Figuren identifiziert oder mit ihnen fühlt. Alles erscheint willkürlich. Alise erschießt Partre, Chick sich selbst? Egal. Chloé stirbt? Na gut, darauf steuert es ja hin. Colin feuert Nicolas, die Maus putzt sich die Finger blutig, man weiß irgendwann gar nicht mehr, warum was passiert, weil es weder im Surrealen noch im Realen schlüssig ist.
Natürlich erinnert „Der Schaum der Tage“ an „Love Story“. Aber auch an andere Filme, die in ihrer Mitte eine Stimmungsänderung haben. Etwa „Das Leben ist schön“, Roberto Benignis KZ-Dramödie, bei der dem Betrachter in der Mitte das Lachen im Halse steckenbleibt. Das geschieht so nicht bei „Der Schaum der Tage“, weil der Kontrast zu schleichend ist und die Figuren zu beliebig bleiben. Vielmehr beschleicht den Betrachter der Eindruck, Gondry habe sein visuelles Vermögen am Anfang verpulvert und den Rest trotzdem drehen wollen. Andersherum wäre es womöglich ergreifender gewesen: Ein trister, karger Start mit einem opulent überbordenden Ende. Zumindest hätte Gondry mit seinem Einfallsreichtum durchziehen sollen. So verlässt man das Kino enttäuscht und der Geschichte gegenüber gleichgültig. Immerhin, die guten Ideen des Anfangs bleiben haften.