Von Matthias Bosenick (18.01.2024)
Dem vermutlich jetzt wirklich letzten langen Film des inzwischen 83jährigen Studio-Ghibli-Mitgründers Hayao Miyazaki misst man selbstredend eine besondere Aufmerksamkeit bei. Mit seinen Animes verzaubert er die Welt, weil jene in diesen Filmen kopfsteht, nicht nur aus westlicher Sicht, und weil seine Animationen bahnbrechend sind. In den zweistündigen „Der Junge und der Reiher“, der auf Japanisch ungefähr „Wie lebt ihr?“ heißt, lässt er vertraute Elemente früherer Filme in eine Geschichte über Entwurzelung, Adoleszenz, Trauer und Krieg einfließen. Fantasievoll ist das Wort, das über allem schwebt, rätselhaft, schön – aber auch schwermütig, passend zur Zeit. Eskapismus ist nicht das Kernvorhaben dieser Jugendbuchverfilmung.
Tokio befindet sich im Krieg (gemeint ist der Pazifikkrieg, 1937 bis 1945; zu dieser Zeit passt der neoklassische, teils minimalistische Score von Joe Hisaishi), die Mutter des zwölfjährigen Mahito verbrennt nach einem Angriff an ihrem Arbeitsplatz im Krankenhaus und der Vater zieht mit dem Sprössling aufs Land, um die jüngere Schwester der Verstorbenen zu ehelichen und mit ihr ein Geschwister zu zeugen. Das Anwesen birgt einen verborgenen Turm, der vor Ewigkeiten vom Himmel fiel und in dem in dem einst der Großonkel verschwand. Ein namenloser, bald anthropomorpher Graureiher mit unornithologischer Physiognomie (diese Zähne!) nimmt Kontakt zu Mahito auf, um ihn zur angeblich doch nicht toten Mutter zu bringen. Der wehrt sich mit Waffengewalt, kann seinem Schicksal aber nicht entrinnen und verirrt sich bald in einer Paralleldimension, in der man sich auch als Betrachter erstmal zurechtfinden muss. Die meisten Personen, denen Mahito begegnet und die keine menschenfressenden Vögel sind, kennt er bereits, erkennt dies aber erst später und mit ihm die Zuschauenden. Man folgt dem Jungen bereitwillig, auch wenn – wie zunächst auch bei „Chihiros Reise ins Zauberland“ – nicht ganz klar ist, welches Ziel er ansteuert. Hier ist es die Abwendung vom Eskapismus in Fantasiewelten, ersetzt durch Trauerbewältigung und das Gestalten des eigenen Lebens nach dem Tod anderer, was in der Tat erst auf den letzten Metern offenbar wird.
Künstlerisch ist „Der Junge und der Reiher“ überwältigend prachtvoll, ganz wie erhofft und eigentlich auch erwartet. Ein Bilderrausch, im Wechsel zwischen bedrohlicher Dynamik und belasteter Kontemplation: Die Flammen, die aus dem Krankenhaus schlagen und in die schnelle Bewegung derer übergehen, die die Eingeschlossenen zu retten versuchen. Das Wasser, wie es fließt, Wellen bildet, an den Strand schlägt, aus Karaffen rinnt. Kleidung ist nie statisch, stets verliert sich Wind in den Stoffen. Keine Figur bewegt sich wie die andere, hier ist nichts gestempelt, nicht einmal in den Massenszenen mit Pelikanen, Kröten, Sittichen oder Warawaras. Jede Bewegung von Lebewesen wirkt wie an der Realität abgefilmt, nicht wie gezeichnet und animiert. Wie immer bei Ghibli-Filmen muss man sich ab und zu vergegenwärtigen, dass man es gerade mit einem Zeichentrickfilm zu tun hat. Einzig die Lippenbewegungen passen im japanischen Original nicht immer exakt zu den Äußerungen, das verwundert bisweilen.
In seinem ersten Film nach seinem Abgang – und daher vermutlich wahrhaftig in seinem letzten – greift Miyazaki auf vertraute Elemente seiner früheren Arbeiten zurück, inhaltlich wie visuell. Die alten Tanten am Anwesen der neuen Mutter sehen aus wie die Hexe aus „Chihiros Reise ins Zauberland“, das Thema Entwurzelung von Kindern kennt man aus „Mein Nachbar Totoro“, die Kletterpartien und potentiellen Abstürze am Gebäude sind aus „Das Schloss im Himmel“ bekannt, Parallelwelten gab es auch in „Das wandelnde Schloss“, die Warawaras, Seelen ungeborener Menschen, erinnern an invertierte Rußbolde. Auch der uneindeutige Umgang mit Gut und Böse tritt hier wieder auf: Den Graureiher fasst Mahito zunächst – für Betrachtende etwas unmotiviert – als Gegner auf und bezeichnet ihn später als Freund, auch die Rolle und Motivation des Turmherren wandeln sich. Anders ist hier indes, dass die Hauptfigur nicht weiblich ist, trotz wichtiger weiblicher Figuren im Film, insbesondere der Flammenfrau Himi.
Nun kommt das Aber, und das liegt vermutlich in der Schwermut des Filmes begründet. Auch bei Chihiro oder „Das wandelnde Schloss“ hatte man Schwierigkeiten, dem Verlauf der Geschehnisse zu folgen, war aber von den Einfällen und bunten, oft humorvollen, munteren, gleichfalls auch beeindruckenden bösen und übersinnlichen Randelementen so eingenommen, dass man den Film einfach wirken ließ und am Ende sehr wohl auch inhaltlich auf seine Kosten kam. Beim Graureiher ist das anders gelagert: Miyazaki reiht die Etappen aneinander, er lässt sie nicht überlappen, und reißt einige lediglich an, ohne sie aufzulösen. Dadurch befindet man sich immer wieder in anderen Räumen und Gesellschaften, zwischen vollgepropft und leer, und kann sich auf keine Situation lang genug einlassen, um zu erfassen, worauf die Handlung jetzt eigentlich aus ist. Zum Ende hin webt Miyazaki diverse Aha-Effekte ein, über das wahre Wesen einiger handelnder Personen, und diese Momente braucht man auch, nur wirken sie nicht auf die Weise erlösend, wie es ihm in früheren Filmen gelingt, sondern vielmehr wie Punkte auf dem Klemmbrett, die er abhakt. Und abgehackt ist auch der Schluss, einmal mehr, auch das ist typisch für Ghibli, entlässt die Zuschauenden hier aber über die Maßen abrupt in den Kinosaal.
Dennoch, es ist immer ein Fest, einen Ghibli-Film auf großer Leinwand zu sehen. Das Buch von Genzaburō Yoshino ist nach dem Erfolg dieser Verfilmung immerhin auch auf Englisch zu bekommen; Miyazaki gibt an, dass es ihn in seiner eigenen Kindheit sehr prägte. Nun, auch das Buch zu „Kikis kleiner Lieferservice“ von Eiko Kadono sollte sich doch endlich auf Deutsch übersetzen lassen, oder?