Von Onkel Rosebud (18.02.2023)
Kindergeburtstag für Erwachsene Folge 8
Neulich im Familienchat: Die Tochter fragt, wer ist die bekannteste Person, die ihr kennt? Sie trumpft auf mit einem italienischen Theaterregisseur, der Papa ihrer besten Freundin. Die Mutter hat mal einer Hollywood-Ikone und Oskarpreisträgerin die Schulter wieder hergestellt, damit sie Dreharbeiten in der Heimatstadt schmerzfrei fortsetzen kann. Das ist natürlich nicht zu überbieten. Dennoch kann ich punkten, weil ich nominiere Philipp Grütering, das einzige verbliebene Gründungsmitglied der Hamburger Band Deichkind.
Vor der Jahrtausendwende, also weit vor „Bon Voyage“, war ich mal in einer Industriebrache im Osten dieses Landes als After-Show-DJ eines Konzertes von Fünf Sterne Deluxe gebucht. Vorband: Deichkind. Und während Tobi, Das Bo, marcnesium und DJ Coolmann der Menge ordentlich einheizten, saß ich mit Kryptik Joe, wie er sich heute nennt, backstage und erörterte bei einem gemeinsam geteilten, mit Tabak angereichertem Produkt, warum er sein Jurastudium für eine Karriere in der Musik abbrechen will. Und obwohl der künstlerische Output der Band seitdem für mich maximal taugt, die heimische Klause lustvoll und beschwingt groß reine zu machen, bin ich großer Fan vom Philipp-Grütering-Projekt, auch wegen solcher Smasher wie „Leider geil“ und „Was habt ihr?“, für die ich als DJ ewig dankbar bin.
Als im September letzten Jahres als Vorbote des achten Albums „Neues Vom Dauerzustand“ das Video zu „In der Natur“ (Stand heute 2,3 Millionen Aufrufe auf ytb, davon 15 von mir) erschien, war ich hin und weg vor Freude über die hintersinnige Jodelkunst, und habe mich gefragt, wie es Deichkind immer wieder schaffen, noch einen draufzusetzen. Denn es gelingt ihnen, den Ukraine-Krieg mit Klimawandel und Hipster-Bashing in einen Song zu packen und dabei dennoch nicht moralisierend und trotzdem sexy zu wirken. „Ich hänge hier im Wald rum, ohne Hafermilch und Heizung. Hier versau ich mir den Look und die Hagebutte juckt“. Goethe war gut, man der konnte reimen. Philipp Grütering steht ihm um nichts nach.
Noch mehr meme-fähige Pointen sind dann wie erwartet auf dem Album zu finden. Das eigene Markenzeichen wird ideenreich ausgebaut. Ein Ohrwurm jagt den nächsten. Deichkind sind in ihrem eigenen Kosmos und auf ihrer eigenen Umlaufbahn unterwegs. Never change a running system. Warum auch. So sind sie unbeschädigt durch die Jahrzehnte gekommen. Das Altern stellt auch ein wiederkehrendes Thema der Platte dar. Am deutlichsten hörbar in dem Stück „Kids in meinem Alter“. Da heißt es unter anderem: „Kids in meinem Alter gucken nach atemberaubenden Gartenlauben. Kids in meinem Alter haben in eurem Alter eine Wohnung für fünfhundert Euro bekomm’n.“ So ist „Neues vom Dauerzustand“ einfach ein großer Kindergeburtstag für Erwachsene.
Auch Fettes Brot und Clueso dürfen da mitmachen und offenbaren den Status, den die Band hat: Schon ewig kein Underground mehr, sondern eine der letzten Instanzen der deutsprachigen Musik, die hintergründig und mit dicker Lippe viele Menschen erreichen und tanzen lassen kann. Philipp Grütering ist heute mehr denn je der Dreh- und Angelpunkt des Electroclash-Trios, das früher mal eine Hip-Hop-Formation gewesen ist.Außerdem bekommt „Neues vom Dauerzustand“ noch einen Sonderpreis in der Rubrik „Beste Albumtitel-Cover-Kombination“.
Olli Schulz rest in fleece,
Onkel Rosebud