Von Matthias Bosenick (11.11.2022)
Filmfest in Braunschweig! Da läuft „Decision To Leave“, der neue Film von Park Chan-wook, schon vor dem Bundesstart. Der einst Gewalt so unmittelbar auf die Netzhaut drückende Regisseur fährt hier Sex und Brutalität zurück, um eine Geschichte zu erzählen, die im Verlauf mehrmals das Genre wechselt: von humorigem Polizeifilm zu einem Ermittlungsthriller zu einem Liebesdrama. Wundervoll komponierte Bilder, psychedelische Bildwechsel und höchst interessante Charaktere fesseln fast zweieinhalb Stunden lang, bis die Geschichte zuletzt jedoch im Sande verläuft. Dennoch verlässt man das Kino mit bemerkenswerten Eindrücken im Kopf.
Hauptfigur ist Polizist Hae-joon (Park Hae-il), der mit einem rumpelhaften Buddy-Cop in diversen Fällen ermittelt, aber viele offen zurücklässt. Neuester Auftrag ist, im Tod eines Bergsteigers zu ermitteln, dessen Witwe Seo-rae (Tang Wei) ihm etwas zu wenig trauert. Alles spricht für einen Unfall, Soe-rae scheint aus dem Schneider zu sein, bis sich Indizien, wie man so sagt, neu verdichten und er Beweise dafür findet, dass sie ihren Gatten sehr wohl vom Gipfel stieß. Da er feststellt, dass er eine Obsession für die Mörderin entwickelt, gibt er seine Fernbeziehung auf, indem er die Entfernung verkürzt und zu seiner Ehefrau zieht. In der neuen Stadt läuft ihm Seo-rae abermals über den Weg, einen neuen Gatten im Schlepptau – der wiederum kurz darauf ermordet aufgefunden wird. Es komm zu, sagen wir mal, Konsequenzen.
Den Auftakt gestaltet Park Chan-wook noch eher humorig, indem er den trüben, schlaflosen, akkuraten Hae-joon auf seinen ungestümen Kollegen treffen lässt. Auch in die ersten Verhöre im Präsidium baut Park noch Humor ein, doch bald schwenkt er in den Thriller, in Suspense, in den Detektivfilm – und schließlich ins Emotionale. Der Regisseur wirft nach und nach die wiederkehrenden inhaltlichen und filmischen Elemente ab, um aufs halbwegs Wesentliche reduziert beim Drama zu enden.
Es fällt auf, dass der Film insgesamt unerwartet europäisch-westlich wirkt, man hat wenig Schwierigkeiten, sich in Verhalten und Gepflogenheiten der Figuren hineinzuversetzen, sogar die vielen Handlungs- und Zeitsprünge sowie die Wechsel ins Erinnern oder Vorstellen zu erfassen. Selbst die Musik ist nicht traditionell koreanisch, sondern bedient sich bei europäischer Klassik, wo nicht der mit spanischen Gitarren unterlegte koreanische Schlager „Mist“ (also „Nebel“, hier gecovert von Song Chang-sik, im Original 1967 von Jung Hoon-hee, seinerzeit Titelsong eines gleichnamigen Films) erklingt, im Abspann übrigens von beiden Hauptdarstellern abermals neu gesungen.
Filmisch ist „Decision To Leave“ ein Prachtstück. Die Ermittlungen inszeniert Park grandios: Schon die Verhöre sind ein Fest fürs Auge, wenn man die sprechenden und zuhörenden Personen gleichzeitig und wechselnd in echt, im Spiegel, auf dem Laptop zu sehen bekommt. Eine konventionelle Situation aus Krimis also unkonventionell dargestellt, wie Park ohnehin mit Vorliebe Gespräche bemerkenswert in Szene setzt, etwa das der beiden auf dem Fischmarkt begegnenden Paare. Dann die wachsenden Verdachtsmomente: Während Hae-joon Seo-rae observiert, versetzt er sich in ihre Berichte hinein und überprüft sie auf Plausibilität, was Park figürlich darstellt, also wirklich den Polizisten in Seo-raes Erinnerungen verpflanzt. Als zusätzlichen Kniff komponiert Park ästhetisch ansprechende Bildübergänge, die an die psychedelische Afri-Cola-Werbung der Siebziger erinnern. Und er gestaltet seine Bilder wie Gemälde, lässt wichtige Personen nur im Hintergrund erkennbar sein, generiert Wärme, Leere, Dynamik mit der Art und Weise, wie die Kamera Räume erfasst, wie sie schwenkt, zoomt, statisch bleibt.
Auch ohne sich in koreanischer Tradition auszukennen, kann man einige Symbole recht leicht entschlüsseln: Da – nicht nur im Titelsong – Nebel eine wesentliche Rolle spielt, der die Sicht auf die Dinge verschleiert, lässt Park seinen Detektiv in kniffligen Situationen Augentropfen nehmen, die seinen Blick klären. So spielen Augen auch immer wieder eine Rolle in den Bildern, die von Leichen ebenso wie die von Fischen, durch die man Menschen auf dem Markt betrachtet – ein kurioser visueller Effekt, der nicht deplatziert wirkt. Zwischen Cop und Killerin entwickelt sich die Standard-Situation, dass ihm ein Schuhband aufgeht und sie ihn darauf aufmerksam macht, und als sie am Ende die „Decision To Leave“ fällt, knotet er sich abermals die Senkel neu. Wie seine Kleidung ohnehin wichtig ist, er hat immer Trenchcoats und Hosen mit extra angenähten Taschen – in denen die beiden Frauen seines Lebens indes nie eine Waffe finden, wenn sie sich bei ihm zur Erfüllung irgendeines Bedürfnisses bedienen, dafür aber beispielsweise schützendes Lippenbalsam, so einer ist er nämlich.
Nun gibt es natürlich dennoch Elemente in diesem Film, die man als Nicht-Koreaner nicht erfasst. Allem voran die Sprache: Soe-rae ist eine eingewanderte Chinesin, die ihr unzureichendes Koreanisch selbst bemängelt und bisweilen Synonyme schief verwendet, aber stets klar formulieren kann, was sie ausdrücken will, wenn sie nicht zur Not ihr Smartphone die Übersetzung übernehmen lässt. Die Feinheiten kann man anhand der Untertitel natürlich nur erahnen, den Umstand ihrer fremdartigen Sprechweise erfasst man dennoch. Und sicherlich bringt Park zahlreiche Symbole im Film unter, die man als Europäer vermutlich nicht einmal als Symbole ausmacht.
Einige Rätsel bleiben offen: Etwa, was Soe-rae damit bezweckt, den Dialog mit Hae-joon auf dem Berg am Ende mit einem Gerät an ihrem Hinterkopf mitzuschneiden – vermutlich will sie ihm Kompromittierendes entlocken, doch immer, sobald er in ihre gewünschte Richtung ansetzt, biegt er doch in eine neutrale Variante ab. Geschickt, aber – mit dem Ende zwecklos, oder? Es gibt weitere Verhaltensweisen, die unklar bleiben: Warum heiratet Soe-rae vor ihrem Umzug einen Kriminellen, der sie schlägt? Warum verlässt Hae-joons Ehefrau ihren Mann so abrupt für einen anderen Geschiedenen? Wie schafft es Hae-joon, parallel zu seiner Arbeitszeit Soe-raes Posten als Betreuer älterer Menschen einzunehmen, während sie anderweitig beschäftigt ist? Welche Asche trägt Soe-rae mit sich herum?
Aber das sind Nebenspielereien, mit denen man sich arrangieren kann. So verfolgt man den verständnisvollen Cop auf den verhängnisvollen Spuren seiner Femme Fatale, die sich der Konsequenzen ihres Handelns zusehends ausgeliefert sieht. Das Ende indes schleppt sich trotz schöner Bilder – der Küstenstreifen von oben und Hae-joon guckt zum Kinosaal herauf – etwas zäh und versandet im Wortsinne. Aber das Meer ist schön, wunderschön.