Von Matthias Bosenick (30.11.2021)
Da chillt sich der alte Front-242-Soundtüftler Daniel Bressanutti durch mehrere Stunden Ambient: Gleich zwei Doppel-CDs mit nur jeweils einem Track zwischen 45 und 75 Minuten Länge pro Tonträger setzt er unter seinem Alias Prothese ab, „Shades“ sowie zwei Fortsetzungen von „44.44“. Ersteres erscheint im Zusammenhang mit der Online-Ausstellung „Sky Any Colour“ und ist in der ersten Hälfte rhythmischer als Zweiteres, das als Experiment im Geiste der Siebziger aufzufassen ist. Für Daniel B. gilt stets: Seine Chillout-Musik ist gleichzeitig spannend und entspannend.
Den Soundtrack zur Zukunft gestaltet ein Mensch Ende 60, das ist subtil. „Shades“ ist Teil des Projektes „Sky Any Colour“, auf dem die Münchener Designagentur Acronym (auch oldschool-modern ACRNM) und die ebenfalls von Deutschland aus agierende und von Asus-Mitarbeitern initiierte Hightech-Spiele-Plattform Republic Of Gamers seit einem Jahr über 50 internationale Designer und Künstler ihre Arbeiten online präsentieren lassen, darunter Leute aus dem Umfeld von The Weeknd und Pussy Riot. Nicht weniger als der Blick in die Zukunft ist das Thema, und kaum etwas veraltet schneller als ebenjener, siehe alte SciFi-Filme oder -Bücher, also gilt es, sich schnellstmöglich Inspiration bei den Visionen auf skyandcolour.com zu holen, bevor die Realität sie überholt. Wo man Prothese auf der sich stets verändernden Webseite überdies findet, muss man schon selbst suchen; das ist nicht einfach, weil die Seite so modern gestaltet ist, aber in den beiden Projekten „Into Broken Eyes“ (1) und (2) etwa entdeckt man „bressanutti_daniel“ in der Rubrik „Score“.
„Shades“ klingt dem Anlass entsprechend futuristisch, doch bei Lichte betrachtet nicht weniger, als es bei experimenteller elektronischer Musik seit Mitte der Neunziger ohnehin der Fall ist. Hier schimmern neben Bressanuttis eigenen Beiträgen zum späteren Sound von Front 242 und seinen unzähligen Solosachen auch Elemente von Autechre, Aphex Twin oder Future Sound Of London durch, die den musikalischen Futurismus bereits vor 25 Jahren ausformulierten. Heißt: Es zirpt und zwitschert synthetisch, Glitches und digitale Verfremdungen treten dezidiert auf, die Sounds sind offensiv artifiziell, einzelne Elemente könnte man im moderneren Industrial verorten. Einen großen Teil nehmen reine Ambientflächen ein, bestehend aus zarten bis kratzigen Drones, die ihre Intensität und Tonhöhe variieren, sowie klaren spacigen Sounds. Futurismus halt. Die rhythmischen Passagen sind dabei angenehm tanzbar, wenngleich man zwischen den deutlich überwiegenden Ambientanteilen zu kaum mehr als Kopfnicken und Fußwippen kommt, dann verfliegen die Beats nämlich auch schon wieder. In den Cyberspace. In den Space geht es eher auf der zweiten CD, die in ihren Modulationen, Sequenzen und epischen Atmosphäre-Flächen vielmehr an die Berliner Schule erinnert und auf die digitalen Spezialeffekte nahezu vollständig verzichtet. Heißt: CD 1 ist spannend, CD 2 entspannend.
Eigentlich sind die Teile II und II von „44.44“ ja sogar bereits der dritte und vierte Teil einer Reihe, denn die begann mit „30.30.333-31.31.333“ (2018) und „44.44.44“ (2020). Die Titel geben jeweils die Tracklängen wieder, also dauern auch II und III tatsächlich jeweils 44:44 Minuten. Auf diesen Veröffentlichungen spielt Bressanutti keine Instrumente, sondern manipuliert Sequencer, Oszillatoren und andere Gerätschaften im Geiste psychedelischer Experimente des Siebziger-Krautrocks. Lustigerweise greift er mit II sogar noch auf eine andere Veröffentlichung zurück, nämlich die „Überlastung“-Box aus dem Jahr 2017: Da er hier den Oberheim Sem Pro verwendet, schlägt sich das im Untertitel-Wortspiel „SEM Oberhlastung“ nieder. Für Nummer III, „Dieses Sinkende Gefuhl“, wirft er unter anderem einen WMD Gamma Wave Source an.
Bei solchen Instrumenten ist es nicht unüblich, dass auch ohne einen Pianisten Melodien entstehen, Sequenzen eben, die sich immerfort aneinanderreihen und die Bressanutti mit Effekten aus anderen Apparaturen ergänzt. II ist dabei relativ stressfrei pluckernd, flirrend und dudelnd, III besteht aus einem ellenlangen Drone mit leicht variierenden Tonhöhen. Man hört dem kundigen Druiden quasi beim Brauvorgang zu.
Lustig ist das Verwirrspiel um die CDs und die Hüllen: II und III kommen nicht als Doppel-CD, sondern als zwei Einzel-CDs, die farblich exakt mit ihrem Cover vertauscht sind. Da muss man aufpassen, dass man nicht Lila zu Lila und Gelb zu Gelb steckt, sondern genau kreuzüber. Digital bekommt man übrigens „Dieses Sinkende Gefuhl“ zusätzlich in „<langsam>“ und genau so lang als noch chilligeren Bonus. Bressanutti fasst „44.44“ überdies als „Music für the no / new normality“ auf, jedoch lässt er offen, wie er das meint. Man wird ja hellhörig dieser Tage.