Von Matthias Bosenick (29.01.2024)
Als jemand, der Canaan noch gar nicht kennt, drängt sich beim Hören von „Ai Margini“ bald Scorn als Analogie auf, mit den heruntergepitchten Hip-Hop-Beats und den sphärischen Industrial-Sounds, und wenn man dann nachliest, dass sich Canaan 1995 aus der Asche der Mailänder Doom-Metal-Band Ras Algethi mit noch sehr ähnlicher musikalischer Ausrichtung formierte und diese Art von Ambient erst seit jüngerer Zeit aus dem gewohnten Sound herausfilterte, fühlt man sich in seiner Scorn-Analogie zusätzlich bestätigt und versteht, warum eine Band mit solcher Musik überall im Metal-Kontext erscheint. „Ai Margini“, das erste Lebenszeichen seit sechs Jahren, ist dunkel, harmonisch, in der Mitte fragil, „An den Rändern“ – so der Titel übersetzt – zwischen kopfnick- und tanzbar sowie in seinen Strukturen frei von jeglicher Art Lied. Das ist mal echt eine Entwicklung!
Die Kombination für sich ist schon sehr angenehm: „Ai Margini“ startet mit italienischen Sprachsamples, die sich durch das gesamte Album ziehen und die wie ein verfremdetes Flüstern klingen, geheimnisvoll, nicht eben verschwörerisch, sondern eher verzweifelt, zurückhaltend, aller Energie beraubt. Die Beats dazu haben etwas von Hip Hop, synthetisch und so verschleppt, so gedrosselt, dass man geneigt wäre, von Trip Hop zu sprechen, stünde der nicht für eine vollere, tanzbarere Art der Verzweiflung. Mit den Soundscapes und Effekten kann man das Album vielmehr im Industrial unterbringen, im Dark Ambient vielleicht. Auch wenn die Beats eine spürbare Schwere tragen und die Samples Hoffnungslosigkeit ausstrahlen, bleibt der Sound insgesamt warm und einladend. Vielleicht auch nur für Leute, denen Verzweiflung ein vertrauter Geselle ist.
Auf diese Weise gestalten Canaan Ein- und Ausgang des Albums, in der Mitte fallen die Beats weg. Die Soundscapes übernehmen das Ruder, die akustische Landschaft bleibt dennoch leer, milde, sphärische Drones ergeben eine Art Firmament, an dem dezidiert elektronische Effekte und Samples prangen. Melodien tragen die Soundscapes keine, und doch empfindet man sie als harmonisch. Man taucht tief ein in ein Land, das sich wie der Fiebertraum eines Anästhesisten ausnimmt: betäubend, zur Regungslosigkeit gezwungen.
Die Geschichte dieser Band ist schon sehr speziell. 1992 formierte sich in Mailand die Doom-Metal-Band Ras Algethi, brachte 1995 ein Album heraus und zerbrach. Mauro Berchi und die Brüder Luca und Matteo Risi blieben beieinander und gründeten Canaan, musikalisch zunächst noch ähnlich orientiert und instrumentiert. Gitarre, Bass und Schlagzeug hört man heute nicht mehr heraus, sofern sie überhaupt noch zum Einsatz kommen, was nicht anzunehmen ist. Bereits das Debüt „Blue Fire“ integrierte 1996 elektronische Mittel in den nach den Cocteau Twins klingenden – nun: Wave Rock? Shoegaze? Zehn Jahre später kamen zu den Waverockigen Songs auf „The Unsaid Words“ Vergleiche zu My Dying Bride und Anathema auf, was sich 2018 auf „Images From A Broken Self“ längst komplett erledigt hatte. Und da stehen Canaan noch heute.
Von der Ursprungsbesetzung gehört dem heutigen Trio lediglich Mauro Berchi an, der in Doom, Gothic und anderen Metal-Spielarten sowie im Dark Wave auch in anderen Bands aktiv ist, darunter Cultus Sanguine, Ending und Weltschmerz, und außerdem betreibt er das Label Eibon Records. Von der Band Weltschmerz ist Alberto Valdonio noch mit dabei, der zudem als Coma Divine Dark Ambient macht. Dritter ist Nico Faglia, der offenbar bereits am Debütalbum beteiligt war und erst 2002 mit „A Calling To Weakness“ fest einstieg. Parallel existiert Canaan noch als Neronia, einer Kooperation mit dem experimentellen Songwriter-Projekt Colloquio aus Bologna.
„Ai Margini“ dürfte nach sorgfältiger Zählung das neunte oder zehnte Album von Canaan sein. Zusätzlich dazu, dass es gut gelungen ist, erfrischt die Genre-Offenheit der Beteiligten. Scorn würde heute auch niemand mit Napalm Death in Verbindung bringen. So geht Metal.