Von Matthias Bosenick (07.11.2012)
Die Idee ist so großartig und so naheliegend, dass man sich wundert, dass sie vorher noch niemand hatte. Nicht nur das: Das Drehbuch bleibt konsequenz und zieht mit allen erdenklichen möglichen Folgen bis zum Ende durch. Der ganze Film ist eine durchgehende Meta-Geschichte: Ein korrupt werdender Stadtrat aus Vancouver glaubt infolge einer Psychose, immerzu von einem Kameramann gefilmt zu werden. Der Clou daran ist, dass der Zuschauer den Film aus der Sicht des imaginären Kameramanns sieht. Und hämisch grinsend verfolgt, wie der Politiker Zug um Zug sein ganzes Leben versaut. Großartig.
Mit dem Moment, da Stadtrat Larry sich erstmals korrumpieren lässt, beginnt der Film. Erste Meta-Ebene: Der Film ist geschnitten wie ein – Film, aber der real existierende Kameramann, der ja an sich nur im Sinne des Regisseurs seinen Job macht, ist jetzt Inhalt des Films. Nur Larry und der Zuschauer können ihn wahrnehmen. Sobald Larry auf den Kameramann eindreschen will, gibt es einen Schnitt und man sieht von der Seite, wie Larry ins Leere haut und in Richtung der neuen Kamera-Position sagt: „Wie hast du das gemacht?“ Sobald Larry merkt, dass nur er den Kameramann sieht, holt er sich Rat bei einem Psychologen. Der gibt ihm und damit dem Zuschauer die Erklärung für den Film: Der Kameramann filmt nur die Szenen, in denen Larry sein Ego aufbläht und zum Arschloch wird, etwa, als er sich vom Bau-Tycoon korrumpieren lässt, seine Frau belügt oder seine Assistentin poppt. Doch den Rat des Psychologen, den Kameramann als Freund aufzufassen, schlägt Larry in den Wind. Stattdessen geht sein Leben mehr und mehr den Bach herunter. Larry tötet versehentlich den Ex seiner Assistentin, belügt weiter seine Frau, willigt den Deal mit dem Tycoon ein und schlägt hin und wieder ins Leere. Einmal fasst er einen echten Kameramann als seinen imaginären auf und geht dem fast an die Gurgel – ein gefundener Skandal für die Presse, sehr zum Ärger des Tycoons.
Nächste Meta-Ebene: Larry glaubt, der Hauptdarsteller in einem Hollywood-Film zu sein. Ein Beleg ist für ihn die klischeehafte Kleidung seines Psychologen, ein anderer, dass er plötzlich ein Orchester hört. Mit dem Moment der Erkenntnis verändert sich die Qualität des Films: feste Kamera, satte Farben und Töne, hollywood-artige Schnitte, Dudelmusik. Wenn das ein Film ist, glaubt Larry, und er der Held, dann hat er auch das Drehbuch in der Hand. Großkotzig will er jetzt seine Frau zum Zurückkommen bewegen und aus dem Deal mit dem Tycoon aussteigen – mit tödlichen Folgen. In einer Bank wird Larry fälschlich für einen Geiselnehmer gehalten. Er fordert kurzerhand, dass seine Familie zu ihm zurückkehrt – und einen vernünftigen Drehbuchautoren. Inzwischen kann Larry seine Gedanken als Voice-Over hören. Ein Bankangestellter entpuppt sich als Hobby-Scriptautor und erläutert Larry, wie es im typischen Hollywoodfilm – und auch in „Shy Cam“ – weitergeht. Erst der Bankangestellte bringt Larry auf den Trichter, was es mit der ganzen Sache auf sich hat und dass er seine ursprüngliche moralische Haltung wiederherstellen muss, um aus dem Film auszusteigen.
Die Geschichte an sich ist schon spannend, dass ein Politiker glaubt, von einem Kameramann verfolgt zu werden. Besser noch als diese knappe Inhaltsangabe ist eben die Umsetzung, dass der Film das zeigt, was der imaginäre Mensch filmt. Form und Inhalt sind eins. So schön ist das Medium Film selten Bestandteil seiner selbst gewesen. Sehr schön ist auch, dass man als der kleine Mann mal sieht, wohin es den großen Mann führen kann. Es ist eine große Freude, dem Arschloch beim Scheitern zuzusehen. „Camera Shy“ ist ein kleiner Film mit dem Zeug zum Überraschungserfolg.