Von Matthias Bosenick (03.02.2015)
Es ist ziemlich eindeutig, warum ein Film wie „Birdman“ in den USA so hohe Wellen schlägt: Er rückt Hollywood- und angesagte Popkultur-Themen (Superhelden!) in den Fokus, inklusive pseudoselbstkritischem Humor. Sowas kann Hollywood ab, da feiert es sich selbst. Jedes Mal, und da beginnt die Problematik: Alejandro González Iñárritu bietet an Nähkästcheneinblicken nichts Neues. Vielmehr lenkt er damit vom eigentlichen Thema ab, für das der ganze Superheldenkram lediglich ein Vehikel ist: Die Hauptfigur Riggan Thomson (Michael Keaton) hat ein Egoproblem; er weigert sich, zu lernen, dass er seine persönlichen Probleme zu Lasten anderer lösen will. „Birdman“ bietet indes vorrangig formale Gründe, ihn sich anzusehen: Der Film suggeriert, in nahezu nur einer Kamerafahrt gedreht worden zu sein, und die Schauspielerriege ist tatsächlich grandios. Trotzdem langweilt man sich über lange Strecken.
Iñárritu verzettelt sich zu sehr in Nebenschauplätzen, mit denen er das kaputte Hollywood noch bloßer stellen will. Dabei hat er mit der Hauptfigur einen Charakter geschaffen, der das Schiff auch alleine in den (Flug-)Hafen gesteuert hätte: Thomson war Anfang der 90er Darsteller des Superhelden Birdman (Parallelen zu Keatons Rolle als „Batman“ sind angeblich zufällig). Nach dem dritten Teil stieg er aus der Serie aus und versank in der künstlerischen Bedeutungslosigkeit. Die will er rehabilitieren, indem er am Broadway reüssiert, und zwar mit dem Stück „What We Talk About When We Talk About Love“ von Raymond Carver aus dem Jahr 1981, bei dessen Inszenierung Thomson als Hauptdarsteller und Regisseur in Personalunion auftritt. Thomson hält sich für gottgleich mit übersinnlichen Fähigkeiten und bekommt außerdem Einflüsterungen von seinem stillgelegten Alter Ego Birdman, der unablässig raunt, Thomson sei zu Höherem berufen als dem lausigen Broadway. Thomson glaubt, dass seine künstlerische Existenz vom Gelingen des Stückes abhängt, und trampelt bei der Verwirklichung seiner Vision hysterisch auf den Leben seiner Mitmenschen herum.
Dort greift Iñárritu nun auf die Schauspielerbefindlichkeiten zurück. Thomson selbst hat ein Über-Ego, sein eigens gewählter Sidekick Mike Shiner (Edward Norton) ebenso, nur hat der noch zusätzlich Erektionsprobleme, Thomsons Tochter war auf Entzug und ist jetzt seine Assistentin, Thomsons Ex liebt ihn immer noch, Thomsons Neue lügt ihm eine Schwangerschaft vor, eine Kritikerin macht es sich angeblich zu Lasten der Künstler mit ihren Vernichtungen bequem, zwei Schauspielerinnen küssen miteinander, es gibt eine versuchte Vergewaltigung, Selbstmord, Drogen, Alkoholismus, Schlägereien, Ruhmesvergleiche. Die ganzen Animositäten der Schauspieler sind zur Hälfte so klischeehaft, dass sie tatsächlich langweilen; an unerwarteter Stelle wiederum trumpfen eher die Nebenfiguren auf als Thomson. Die Situationen haben selten etwas mit der Alltagsrealität des Betrachters zu tun, noch weniger mit der eines Betrachters in Europa, und sind bereits zu oft auch in Hollywood offenbart worden, um überhaupt noch ein erstauntes Raunen erzeugen zu können.
Vielmehr hätte sich Iñárritu auf den Kern konzentrieren sollen: Thomsons Ego gerät bei dem Versuch, sich selbst zu erhöhen, in einen hysterischen Strudel aus Allmachtsgedanken und Rücksichtslosigkeit, der jede vermeintlich rettende Tat Thomsons das Gesamtprojekt nur noch weiter an den Abgrund heranführt (was – Broadwaykritik inklusive – natürlich das öffentliche Interesse wachsen lässt). Weil Thomson sich aber weigert, genau das zu begreifen, müssen ihm seine Mitmenschen den Sachverhalt mehr und mehr klarmachen, aber auch darauf reagiert er stets egoistisch. Bis es blutig wird – und er lernt, auf eigenen Füßen zu stehen respektive mit eigenen Flügeln zu fliegen, nicht auf denen anderer oder seines Alter Egos.
Diese Thematik ist berufs- und standesübergreifend spannend. Anstatt eines gescheiterten Schauspielers hätte auch eine Putzfrau im Mittelpunkt stehen können; nur wäre Iñárritu dann natürlich das Hollywood-Publikum weggeblieben. Mit dem Hollywood-Thema verschüttet er jedoch die spannende Charakterentwicklung: Dem Betrachter wird nicht recht deutlich, wie sehr im Unrecht Thomson meistens ist. Man sieht ihn lediglich zwischenmenschlich scheitern, ganz so, wie es den meisten Zuschauern aus dem eigenen Leben bekannt sein dürfte. Auf die Idee, seine eigene Perspektive zu ändern, andere nicht für die eigenen Zwecke zu missbrauchen und seine Mitmenschen nicht als Gegner aufzufassen, wie es in der Jetztzeit jedoch üblich ist, kommt der Betrachter noch wahrscheinlicher nicht, als es Thomson im Verlaufe gelingt.
Vielmehr lauert der Betrachter auf Special Effects mit dem Birdman und auf vulgäre Ego-Dialoge, die hier als Humor gemeint sind. Es ist ebenso fraglich, dass der Durchschnittsgucker dabei die brillante Kameratechnik wahrnimmt. Fast wie in „Cocktail für eine Leiche“ von Alfred Hitchcock gibt es nämlich bis zur Zäsur keine erkennbaren Schnitte. Die Kamera folgt den Figuren durch Theatergänge, in Nebenräume, auf die Bühne, in die Kneipe nebenan, auf die Straße und aufs Dach. Hindernisse und Gravitation scheint es nicht zu geben, die Zeit ist aufgehoben, Figuren sind in der Lage, an zwei Orten gleichzeitig zu sein, und dazu scheint sogar die Musik live eingespielt zu sein – man sieht den grandiosen Jazzdrummer gelegentlich im Bild. Der hauptsächlich aus diesem Schlagzeug bestehende Score ist großartig. Auch die Schauspieler sind beachtlich gut: Sie müssen nicht nur ihre Figuren glaubhaft darstellen, sondern in ihren Rollen auch noch eine Bühnenrolle übernehmen. Das Ergebnis erzwingt größten Respekt.
Dennoch bleibt der Genuss von „Birdman“ ambivalent. Zu sehr erweckt Iñárritu den Eindruck, nach seinen gefeierten mexikanischen Erfolgen in Hollywood Punkte sammeln zu wollen. Abgesehen von der brillanten Technik in Bild und Ton vergisst man den Film recht schnell wieder. Hier siegt Form über Inhalt – ganz so, wie Hollywood es liebt.