Von Matthias Bosenick (27.12.2018)
„2001: A Space Odyssey“ im Wald von „Blair Witch Project“: Wie eine unbestimmte außerirdische Macht da an irgendeinem Strand die Evolution manipuliert, lehrt eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen das Fürchten. Alex Garland erzählt diese bisweilen etwas konstruiert wirkende Dezimierungsgeschichte entspannt und ergreifend, schmückt sie mit ansehnlichen Bildern und vermeidet Kleistermucke. Hübscher Film, der sich sicherlich auch auf der Leinwand gut gemacht hätte, besonders der Flug in den Monolithen, ähm: der Blick in den Klon sowie die dezidiert gesetzten Sequenzen mit mutierten Angreifern im Regenbogenwald des Grauens.
Wie gut, dass Lena, die Ehefrau des einzigen Menschen, der jemals aus dem „Shimmer“ genannten Areal zurückkehrte, nicht nur Biologin, sondern auch Ex-Soldatin ist, denn so drängt sie sich als Teilnehmerin der nächsten Mission in den Shimmer geradezu auf. Ihr Gatte zeigt nach einem Jahr des Verschollenseins nämlich rätselhafte Eigenschaften, bevor er wegen innerer Blutungen ins Koma fällt: Das plötzliche Erscheinen an der Treppe zum Schlafzimmer frei von jeder Erinnerung etwa ist eine davon. So schließt sich Lena also den Wissenschaftlerinnen an, die – zugegebenermaßen gegen jeden Menschenverstand – erneut in den sich wie ein Krebsgeschwür kontinuierlich ausbreitenden Shimmer treten, um zu dessen Quelle in einem Leuchtturm zu gelangen (anstatt vielleicht erstmal in Sichtweite zu bleiben und Daten über den Shimmer zu sammeln, auf deren Basis man sich besser auf solch eine Expedition vorbereitet).
Mit Hilfe der Erzählstruktur baut Garland Spannung auf und lägt Rätselfährten: Man weiß, dass Lena als einzige aus dem Shimmer zurückkehrt, denn sie wird in der Quasi-Rahmenhandlung immer wieder zu den Ereignissen befragt; aus ihren Antworten besteht also der Hauptfilm. Dazwischen geschnitten sind Erinnerungen an die gemeinsame Zeit von Lena und unter anderem ihrem Mann, bevor der seinen geheimen letzten Auftrag annimmt.
Der wunderliche Wald, den das Quintett nun durchmisst, bietet so einige Unannehmlichkeiten: Schon am dritten Tag verlieren die Wissenschaftlerinnen jede Orientierung und jedes Zeitgefühl. Pflanzen sehen verändert aus, wie Mutationen am selben Stengel. Und Tiere mauserten sich offenbar zu tödlichen Räubern mit bösen Eigenschaften, etwa der, Laute von Opfern kopieren und als Lockruf einsetzen zu können. Die Frauen ermitteln, dass sich die fremde Umwelt an der DNS bedient, die sie umgibt, und daraus Neues erschafft, nicht nur Symbiosen. Letztlich wendet diese Natur diese Fähigkeit auch auf die Menschen an, die sich in ihr aufhalten. Im angenehm verrätselten Finale bedeutet dies eine Auseinandersetzung mit Identität, vergleichbar mit den „Body Snatchers“; die unklare Intention der Aliens beschäftigt auch das Team, was dem kritischen Zuschauer geschickt den Wind aus den Segeln nimmt.
Natürlich sind komplett neue Themen heutzutage schwierig, also braut Garland einen Zitatemix zusammen, der in sich gut funktioniert. Dazu trägt auch seine Handschrift bei: Die Tricks sind nicht überzogen oder unglaubwürdig, CGI fällt nicht unangenehm auf; das weiß er auch dadurch zu verhindern, dass er an entscheidenden Stellen mit Licht und Schatten arbeitet und Details nur andeutet, anstatt sie unglaubwürdig auszuformulieren. Nicht zuletzt die Abwesenheit eines Dudelscores unterstreicht hier den Thrill; gelegentliche Gitarrenpickings (von Ben Salisbury sowie Geoff Barrow von Portishead) oder Gruselchöre reichen völlig aus und betonen die Absicht.
Eine wundervolle Abwechslung ist die Tatsache, dass in diesem Sci-Fi-Action-Horror-Film fünf Frauen die Heldinnen sind, und das nicht auf billigem Superhelden- oder großbusigem Lara-Croft-Niveau, sondern authentisch, natürlich, nachvollziehbar. Die Frage nach dem Vordringen dieser Frauen in eine vermeintliche Männerdomäne stellt sich gar nicht, und diese Selbstverständlichkeit dürfte wohl das größte Verdienst dieses Filmes sein. Die fünf Charaktere bringen natürlich, ganz nach Siebziger-Katastrophenfilm-Muster, ihre eigenen Schicksale mit in den Wald, aber die sorgen dann auch mal für Zündstoff und erklären zudem die unterschiedlichen Prämissen für die jeweiligen selbstzerstörerischen Schicksale. An der Besetzung gibt es auch nichts zu mosern, sogar Stars hat Garland zu bieten, darunter Natalie Portman und Jennifer Jason Leigh, die das Ensemble aber nicht dominieren. Fragwürdig indes sind manche Entscheidungen des Teams, die bestimmte Katastrophen erst ermöglichen: Wenn man schon Wachposten aufstellt, während alle anderen erhoben nächtigen, dann doch nicht auf ebenem Grund, zum Beispiel.
„Annihilation“ basiert recht locker auf dem ersten Teil der „Southern Reach“-Trilogie von Jeff VanderMeer; damit schließt Garland mit seiner zweiten Arbeit als Regisseur quasi einen Kreis, schließlich begann er selbst als Autor, dessen Bücher andere verfilmten, ausgehend von „The Beach“ war dies zumeist Danny Boyle. „Annihilation“ gibt’s seit März auf Netflix und in den USA auf bereits DVD.