Von Annett und Guido Dörheide (05.08.2025)
„Mal sehen, ob wir das durchhalten, ohne uns total aufzuregen“, dachten wir, als wir die australische Netflix-Miniserie „Apple Cider Vinegar“ einschalteten. Die Serie handelt von alternativer Medizin, Scharlatanerie, Influencertum und haltlosen Heilsversprechen (die natürlich, wie immer einem solchen Kontext, nie wirklich gegeben wurden, es ging ja angeblich immer nur um harmlose Ernährungstipps…), bietet also tatsächlich viel Aufregungspotenzial.
Hauptpersonen sind drei Frauen zwischen zwanzig und dreißig: die erfolgreiche Influencerin Belle Gibson, die gemeinsam mit ihrem Partner Clive eine Ernährungs-App entwickelt hat, die Millionen von Nutzenden anzieht, die ebenfalls erfolgreiche Influencerin Milla Blake, die online über ihren Kampf gegen den Krebs berichtet, den sie mittels einer hauptsächlich auf einer speziellen Fruchtsaft-Diät basierenden alternativen Medizin führt und dabei ebenfalls Millionen Follower generiert hat, sowie Lucy, eine Brustkrebspatientin, die nach ständiger Verschlimmerung der Krankheit die medizinische Behandlung abbricht und mit Belles Ernährungstipps eine Heilung herbeiführen will.
Im Vorspann weisen die wechselnden Hauptpersonen darauf hin, dass hier eine wahre Geschichte erzählt wird, die auf einer Lüge basiert, und dass Belle Gibson für diesen Film kein Geld bekommen hat. Dadurch entsteht zunächst der Eindruck, dass Belle hier die Hauptfigur ist und dass es eventuell ungerecht sein könnte, dass ihre Lebensgeschichte verfilmt wird, ohne sie an den Erlösen zu beteiligen. Schnell wird klar, dass beides nicht der Fall ist: Belles Geschichte ist der Aufhänger, ohne den die Geschichte von Milla und Lucy nicht erzählt werden könnte, und dass die real existierende Belle nicht an der Entstehung der Serie beteiligt ist, ermöglicht eine schonungslosere und vermutlich realistischere Darstellung ihrer Persönlichkeit, als es der echten Belle Gibson Recht sein wird. Mehr dazu später.
Auch Milla Blake beruht auf einer real existierenden Person, deren Name jedoch geändert wurde, vermutlich aus Respekt vor der Familie von Jessica Ainscough (so hieß sie wirklich), die im Jahr 2015 ihrer Krebserkrankung erlegen ist.
Die fiktive Figur der Lucy dient dazu, die Auswirkungen des Wellness- und Alternative-Medicine-Influencing auf Menschen, die ihre Hoffnungen darauf stützen, zu verdeutlichen; außerdem ist es ihr Ehemann Justin, der als investigativer Journalist gemeinsam mit seinem Kollegen Sean und Belles ehemals bester Freundin Chanelle die Lügengeschichte aufdeckt, auf der der Erfolg von Belles Ernährungs-App „The Whole Pantry“ beruht:
Im Jahr 2009 behauptet Belle, an einem unheilbaren Hirntumor erkrankt zu sein und nur noch wenige Monate zu leben zu haben. Ihren Kampf gegen den – frei erfundenen – Tumor dokumentiert sie im Internet und erreicht damit weltweite Aufmerksamkeit. In Rückblenden wird gezeigt, dass Belle bei einer lieblosen und selbstbezogenen Mutter aufgewachsen ist und später im Berufsleben nicht die erhoffte Aufmerksamkeit der Kolleginnen und Kollegen erhält, sie wird außerdem als sehr manipulativ, rücksichtslos und voll narzisstischer Persönlichkeitsmerkmale dargestellt. Durch diese immer wieder auftauchenden Rückblenden wird den Zuschauenden plausibel gemacht, wie Belle ihren Erfolg auf einer Lüge begründet und welche Eigendynamik diese Lügengeschichte dann entwickelt.
Milla hingegen leidet wirklich an Krebs, und zwar an einer seltenen Form des Hautkrebs’, der die Amputation eines Armes erfordert. Das will Milla nicht, weshalb sie ihre Rettung in alternativen Methoden, hauptsächlich in einer von einem mysteriösen mexikanischen „Institiut“ vermarkteten Ernährungsumstellung, die auf den Lehren eines deutschen Arztes, dem aufgrund von Scharlatanerie die Zulassung in den USA entzogen wurde, sucht. Wie Belle lässt sie die Öffentlichkeit an ihrer Geschichte teilhaben, und in diesen Teilen der Geschichte fassten wir uns so manches Mal an den Kopf, welche Medienmacht Influencer:innen haben, und sehnten uns nach der Zeit vor dem massenweisen Auftauchen der Internet-Persönlichkeiten zurück, an die wir uns dank unseres fortgeschrittenen Alters noch gut erinnern können.
Die fiktive Geschichte von Lucy hingegen findet außerhalb der Öffentlichkeit statt und bildet somit einen guten und wichtigen Kontrapunkt zu all der irgendwann nur noch schwer erträglichen Social-Media-Übermacht. In einfühlsamen Bildern wird gezeigt, wie Lucy an der Krankheit leidet, ihr Mann versucht, sie erfolglos von weiteren medizinischen Behandlungen zu überzeugen, und die Lage immer hoffnungsloser wird.
Irgendwann tritt dann Chanelle auf den Plan, die mit Milla befreundet ist und als Belles Assistentin arbeitet, so hinter das Ausmaß von Lügen und Manipulation blicken kann und aus Solidarität mit Milla die beiden Journalisten mit Informationen über Belle versorgt. Im Jahr 2015 liegt die Wahrheit dann offen und Belles Firma bricht zusammen, Apple nimmt die App aus seinem Portfolio, das darauf basierende Kochbuch wird zurückgezogen und Belle wird zu einer Geldstrafe von rund 400.000 australischen Dollar verurteilt, die sie bis heute nicht bezahlt hat.
Die Geschichte ist spannend und temporeich erzählt und spricht dabei nicht nur Social-Media-Fans, sondern auch ein altmodischerer orientiertes Publikum an, das einfach eine gut gemachte, spannende und dazu noch auf realen Begebenheiten basierende Fernsehserie anschauen möchte.
Neben den ernährungsbasierten „Heilungsverfahren“ werden auch andere esoterische und mehr als fragwürdige Therapiemethoden angesprochen: Beispielsweise behandelt Milla ihre sich verschlimmernden Hautausschläge mit „schwarzer Salbe“, einer ätzenden und krebserregenden Paste aus Zinkchlorid und pflanzlichen Bestandteilen, die sogar in der Lage ist, Löcher in den Knochen zu ätzen, sowie mit Kaffeeeinläufen. Auch die gängige Darstellung all derer, die sich an esoterischen, wirkungslosen und schädlichen Heilungsmethoden dumm und dämlich verdienen, nämlich den angeblichen Fakt, dass alternative „Heilverfahren“ von der Schulmedizin (was auch immer das ist, unseres Wissens existiert nur eine Medizin, und die heißt Medizin) und der Pharmaindustrie mit unfairen Mitteln bekämpft wird, weil diese daran nichts verdienen können, wird am Beispiel des mexikanischen „Instituts“ aufs Korn genommen.
„Apple Cider Vinegar“ erzählt somit zum einen die tragische Geschichte einer skrupellosen Hochstaplerin, verdeutlicht die Macht der sozialen Medien, schildert die traurigen Auswirkungen haltloser Heilsversprechen auf diejenigen, die ihre Hoffnung in sie setzen und bietet zum anderen einen interessanten ersten Einblick in die faszinierend-manipulative Welt der alternativen „Medizin“.
So hanebüchen die Geschichte über weite Strecken wirkt, so nahe ist sie, wie man im Buch „The Woman Who Fooled The World“ von Beau Donelly und Nick Toscano (auf dem die Serie beruht) und Internet-Artikeln nachlesen kann, an der wahren Geschichte dran. Am Ende waren wir erstaunt, welche Macht kalkuliert losgetretene Internet-Phänomene entwickeln können, und haben uns dann doch noch aufgeregt.