Von Matthias Bosenick (05.09.2022)
Gott, ist das schön! Was für ein bewegendes, entspannendes, herzerfrischendes, zerbrechliches, behutsames, befreiendes, warmes, luftiges, stilles Album! Die frühere Electro- und New-Wave-Poetin Anne Clark pfeift auf Erwartungen und lässt auf „Borderland“ die Harfenistin Ulla van Daelen und den Cellisten Justin Stefan Ciuche zu ihren Texten improvisieren. Unglaublich, was für ein harmonisches Ergebnis dabei herauskommt. Man hört allen drei Beteiligten herzensgern zu, Anne Clark beim Rezitieren und den Musikern beim Musizieren. Damit setzt die Dichterin den Weg fort, auf Alben eher auf klassische als auf Haudrauf-Begleitung zu setzen – wenngleich sie auf diese nicht grundsätzlich verzichten mag. Musik von Anne Clark ist immer ein Gewinn, auch jenseits von Metropolis und Dunkelheit.
Da hat sie aber auch zwei Goldschätze an ihren Saiteninstrumenten gefunden, die Frau Clark! Ulla van Daelen spielt Konzertharfe und Keltische Harfe, Projekt-Initiator Justin Stefan Ciuche die fünfsaitige Quinton-Violine. Man mag von Kammermusik sprechen, auch angesichts der Lücken, die beide sich selbst und sich gegenseitig lassen, inmitten von Passagen, in denen sie ihrer Imaginationskraft freien Lauf lassen und ungezügelt voranspielen, munter, lebhaft. Anteilig klingen die Stücke nach Klassik, andere wieder eher nach Folklore, keinen von beiden Bereichen indes bedienen die Musizierenden genretreu, es sind Ausflüge, Anspielungen, Erinnerungen, die in das einfließen, was die beiden innig vertieft kreieren. Natürlich fühlt man sich angesichts von Harfe in einem solchen Kontext an Loreena McKennitt erinnert, an Andreas Vollenweider vielleicht, und die Violine weckt Assoziationen an „Am Fenster“ von City oder „Vagabonds“ von New Model Army, nur ohne den Rock’n’Roll darin. Aber das sind nur Leitplanken, die sich für den Konsumenten ergeben, dafür sind van Daelen und Ciuche viel zu eigen, um kopieren zu müssen.
Dazu rezitiert Anne Clark ihre spontan auf Zetteln zusammengesuchten Texte, angemessen zurückhaltend, warm, deutlich, milde. Sie fährt ihre aggressiven Anteile, die sie in den zurückliegenden 40 Jahren nicht selten zum Ausbruch brachte, vollständig zurück. Es fügen sich Stimme und Musik zu etwas Wunderschönem zusammen. Allein ihre Aussprache, wie sie ihr Englisch über ihre Zunge fließen lässt, das ist schon immer eine Wonne. Die Wärme ausstrahlt, und das, obwohl der Titel des Albums suggeriert, dass es ihr um eher düstere Themen geht, was auch nicht ungewöhnlich ist für Anne Clark.
Ihr Personal rekrutierte die Engländerin einmal mehr in Deutschland. Harfenistin Ulla van Daelen ist Mitglied im Kölner WDR-Rundfunkorchester. Neben diversen Soloalben ist sie gern bei anderen zu Gast, sowohl in Jazz und Rock als auch als Begleiterin von Lesereisen; damit erarbeitete sie sich sicherlich beste Voraussetzungen, um an einem Album wie „Borderland“ beteiligt zu sein. Violinist Justin Stefan Ciuche hat eine wilde Biografie: Der gebürtige Transsilvanier siedelte zu Studienzwecken nach Arabien und in den fernen Osten um, um sich jetzt bei Göttingen niederzulassen und seine Geigenkunst nicht nur bei Anne Clark im Liveensemble einzubringen, sondern etwa auch bei den Irish-Folk-Rockern Rauhbein und der Gothic-Indie-Band Tenegra. Auch an Anne Clarks Benefiz-Stück „Mriya – An Ode To Urkaine“ war er beteiligt.
Für Anne Clark ist dies nicht das erste klassisch instrumentierte Album. „The Smallest Act Of Kindness“ war 2008 noch ein voll ausformuliertes Werk, das chillig begann und in Wucht und Wut ausrollte. Danach veröffentlichte sie das Piano-Album „Enough“ mit Murat Parnak und das ebenfalls nicht laute elektronisch unterlegte Album „Homage“ mit Thomas Rückoldt. Zwischen jenem und „Borderland“ verfiel sie indes einmal mehr in die Lust auf Krawall und ließ sich auf „Synaesthesia“ ausgiebig remixen. Weitere weniger behutsam instrumentierte Veröffentlichungen der zurückliegenden zehn Jahre waren „Fairytales From The Underground“ und „Life Wires“ mit herrB, „Between Shadows And Lights“ mit Kuniyuki Takahashi sowie „Donald Trumb Praesidend (Quack Quack)“ mit Ludwig London. Reduziert instrumentiert erschien Anne Clark indes bereits auf ihrem Debüt „The Sitting Room“ vor 40 Jahren, „Just After Sunset“ mit Martyn Bates war 1998 auch schon ein sehr neofolkig-ruhiges Werk. Somit stellt „Borderland“ lediglich in der Instrumentenauswahl und der Herangehensweise eine Besonderheit im Oeuvre der Poetin dar. Und in der Darreichungsform: Das Album erscheint auf einer Hybrid-Disk im Digibook.