Von Matthias Bosenick (16.07.2016)
Das ist also das Reboot mit sechs Episoden, ein gutes Dutzend Jahre nach dem Aus der Serie und acht Jahre nach dem letzten Kinofilm. Man fragt sich: War „Akte X“ schon immer so öde und unstringent und man hat es nur deshalb nicht gemerkt, weil man die Serie kontinuierlich verfolgte und sich so schleichend an den Verfall gewöhnte? Oder ist die zehnte Staffel tatsächlich besonders mittelmäßig geraten? Hier halten sich Gut und Schlecht die Waage, was sich somit leider zuungunsten von Gut auswirkt. Immerhin: David Duchovny und Gillian Anderson sind die weitaus besseren Schauspieler als der Nachwuchs, der hier zu etablieren versucht wird. Ein Hoch auf die Alten!
Positiv fällt auf, dass Seriendenker Chris Carter seine Hauptfiguren Dana Scully und Fox Mulder nicht auf veralteten Technik- und Gesellschaftslevels hängen bleiben lässt. Viele gegenwärtige Herausforderungen schlagen sich in diesen sechs Episoden nieder, von Drohnenüberwachung über Verschwörungstheorien und Handytracking bis zu islamistischem Terror. Nicht nur einmal wirft Carter einen zynischen Blick auf die Gesellschaft und gibt so einen ätzenden Kommentar zur Lage ab. Auch schlagen sich kulturelle Phänomene wie die „Min kamp“-Romanreihe von Karl Ove Knausgård oder Banksy-Graffiti nieder. In den mehrstündigen Making-Of-Reportagen wird die Leidenschaft der Beteiligten lebendig; sogar der Grund, weshalb Scully in der dritten Staffel von Aliens entführt wurde, macht in dieser Staffel mit: Andersons Tochter Piper Maru Klotz (nicht lachen: Der Vater heißt Clyde Klotz) gestaltete unter anderem die Fahndungsfotos eines der MOW (Monster Of The Week).
Aber so richtig über mag der Funke nicht springen. Die meisten der sechs Episoden sind entweder langweilig oder ziellos. Oder beides. Aus dem Rahmen fällt die dritte Folge, aber dazu später mehr. Zunächst stellt Carter sein Universum mal wieder auf den Kopf: Nicht die Aliens sind Teil der Verschwörung, sondern lediglich von Menschen genutzte Alien-Technologie. Auslöser für die erneute Zusammenkunft des Expaars Scully und Mulder sind die Internetfilme des reaktionären Verschwörungspolitikers Tad O’Malley, der abseits seiner politischen Orientierung in Mulder einen Gesinnungsgenossen wähnt. Im Laufe der von Assistant Director Walter Skiner beauftragten Ermittlungen kommen die reaktivierten FBI-Agenten wieder mal der Wahrheit näher, doch bevor sie sie über O’Malleys Kanal verkünden können, passiert irgendwas Hinderliches. Oh, und der eigentlich vernichtete Krebskandidat lebt natürlich auch noch.
Weiter geht’s mit dem Fiepen im Ohr, das aufdeckt, dass ein vermeintlicher Wohltäter in Wahrheit Experimente mit Alien-DNA an Menschen ausführt. Das Ende dieser Episode hat mit dem vielversprechenden Anfang so wenig gemein, dass man ratlos zurückbleibt. Episode drei greift den klassischen Humoranteil der Serie auf: Gejagt wird ein Monster, das keins ist – der betreffende Kandidat lässt einen Haufen gesellschaftskritischer Betrachtungen vom Stapel, auch die Randfiguren haben unterhaltsame Eigenschaften. Die beste Folge der Ministaffel ist eine in Ausnahmeformat.
Leider kehrt anschließend der Mix aus Langeweile und Orientierungslosigkeit zurück. Spannend ist der Ansatz, dass sich eine Gedankenmanifestation als brutaler Verteidiger der Obdachlosen einsetzt. Auch hier wie in Episode zwei ist das Ende beliebig. Der fünfte Teil ist an sich gar keine X-Akte, sondern lediglich Plattform für eine gegenwartspolitische Auseinandersetzung: Ein muslimischer Attentäter überlebt seinen Anschlag. Mulder und Scully unterstützen die juvenilen Alter-Ego-Ermittler Miller und Einstein auf unterschiedliche Weise: Scully wissenschaftlich, Mulder zugedröhnt – ein bunter Reigen an Filmexperimenten mit einem erfreulichen Auftritt der Einsamen Schützen, die seit ihrem Serientod schmerzlich fehlen. Der Drogentrip birgt als Vision einen klärenden Hinweis, das ist ein netter Einfall. Das Ende zeigt jedoch nur die Überlegenheit der USA gegen den Terrorismus; die Folge ist weitgehend Quatsch. Die letzte Episode ist die Fortsetzung der ersten unter Einsatz der zwischenzeitlichen Ereignisse. Wieder geht es um die große Verschwörung, außerdem um die Vernichtung der Menschheit sowie den wahrhaftigen Grund dafür, weshalb manche Menschen Alien-Erbgut tragen. Abgesehen von der neu gestarteten Comicserie deutet das Ende an, dass es eine elfte Staffel geben muss.
Was den Betrachter wundert, ist, dass die Serie filmtechnisch so beliebig erscheint. Die Tricks sind teilweise amateurhaft, die Ausleuchtung ist viel kälter als früher, abgesehen von Mulders unterhaltsamem Sarkasmus sind die Dialoge streckenweise sehr platt, die Gegenschnitte lassen (wie auch im „Snowpiercer“) Ereignisse aus; solche Anschlussstolperer gab es zuvor nicht. Schon früher gab es zwar einige Episoden, in denen Scully und Mulder an ihrer Existenz verzweifelten und aus dem Jammern nicht herauskamen. Diese Episoden hat man dann erduldet und sich auf die nächsten paar gefreut, die nicht so waren. Bei nur sechs Episoden indes fallen sehr viele solcher Momente einfach zu stark ins Gewicht. Zudem erscheinen manche Einschübe wie die reine Lust am Verwirklichen, sind jedoch nicht Handlungsrelevant, etwa Scullys und Mulders Visionen ihrer Elternschaft oder Mulders Drogentrip. Richtig schlimm sind die Alter-Ego-Figuren: Miller als junger Mulder und Einstein als junge Scully werden von Leuten dargestellt, die so zeitgemäß gesichtslos sind, dass sie nerven. Neben ihnen fällt die Ausdruckskraft von Anderson und Duchovny so richtig stark auf. Die Jungschauspieler wirken wie Praktikanten, aber nicht ernstzunehmend. Hoffentlich sind sie nicht als Dogget-Reys-Ersatz vorgesehen.
War das jetzt also nötig? Ein klares Jein. Die Ansätze sind gut, mehr Ausgereiftheit wäre sinnvoller. Hoffen wir, dass Season X eine Spielwiese war, auf der sich Carters Team ins „Akte X“-Universum zurückfühlte und sich damit auf eine ernsthafte Fortsetzung in Staffel elf vorbereitete. Ach, und: Ja, Mulder und Skinner haben neue Synchronstimmen. Die sind anders. Richtig. Guckt’s halt im Original oder gewöhnt euch dran.