Von Matthias Bosenick (22.10.2020)
Einen Spagat zwischen einst und jetzt macht der Braunschweiger Barnim Schultze mit seinem jüngsten Studioalbum „Einsteigen, bitte …“: Mit den Mitteln seiner gegenwärtigen Ambientalben und auf deren wissenschaftlicher Grundlage generiert er vier Tanztracks wie zu Anfangszeiten seiner Arbeit unter dem Alias Akasha Project, als er sich in Goa und Psy-Trance einen Namen machte. Das passt gut, denn auch in seinen Liveperformances und den Ambientalben bringt er gern tanzbare Elemente unter; diese nun einmal wieder in den Vordergrund zu bringen, ist nur konsequent. Damit bestätigt sich der Braunschweiger musikalisch als der bessere Querdenker.
Vier lange Tracks beinhaltet das Album, Schultze lässt sich also auf jedem hinreichend Zeit für Dramaturgie und Narration; der Tanz allein ist mithin nicht der Kern von „Einsteigen, bitte …“, ein geschickter Pluspunkt. Damit entpuppt sich keiner der Tracks als stumpfer Goa-Trance-Kracher, wie sie in der Szene seit 20 Jahren den zugedrogten Säureköpfen um die Ohren ballern, sondern wenn schon Goa, dann wie Anfang der Neunziger, als in den epischen Tracks noch repetetive Melodien und erzählerische Brüche üblich waren; vom überdichten Sound von damals indes lässt er heute die Finger. Trotz einiger Synthieteppiche; nicht zufällig lautet der Titel des vierten Tracks „Flying Carpet“.
So ganz nur tanzen mag Schultze nun auch wieder nicht, er lässt das Album nämlich eher im Downbeat beginnen, „Morning Glory“ ist ein chilliger Einstieg mit sich wiederholendem weiblichem Stimmsample sowie Instrumentalsounds, die sich nicht am früheren Techno orientieren, sondern an Schultzes heutigen Arbeiten, also weniger Hall, weniger fett ausgespielt, stattdessen akzentuierter, filigraner, nun: intelligenter. Das eher Ruhige setzt Schultze anschließend mit dem Titeltrack fort, in dem der entsprechende Sprachsample gelegentlich erscheint und die Musik ebenfalls im klassischen Ambient-Dance-Stil mit sich wiederholenden schönen Melodien, einem Synthieteppich im Hintergrund und ohne brutal vorantreibende Beats zum entspannten Kopfnicken auffordert.
Clubtauglich wird Schultze dann in der zweiten Hälfte: „Bang“ ist genau das, ein Knall auf dem Dancefloor, mit dem klassischen Goa-Dreivierteltakt und den spacigen Keyboardsounds. Dennoch kübelt Schultze den Track nicht so voll, dass man vor lauter Musik Kopfschmerzen bekommt – etwas, das bei einigen Goa-Tracks bisweilen geschehen kann –, sondern behält einen reduzierten Tonfall bei, verortet den Track also eher im Deep-House. Mit Handclaps! Noch housiger gestaltet sich zum Abschluss der Auftakt zum „Flying Carpet“, der sich allmählich noch am ehesten in die alte Goa-Richtung entwickelt: Die Synthies schlagen Kapriolen, der Sound ist dichter und der Beat von allen vier Tracks am treibendsten.
Was hier nun fehlt, ist das klassische Dudeln zu soften schnellen Beats, wie man es aus Goa und Psy-Trance gewohnt ist. Einen Track wie „Electric Church“, den Schultze 1999 als 12“ veröffentlichte und den die Szene bis heute feiert, reproduziert er auf seinem neuen Tanzalbum nicht. Heute definiert Schultze Tanzen anders als damals, aber weniger tanzbar ist er deshalb nicht. Zusätzlich integriert er auch hier ein Konzept, das er seit 25 Jahren verfolgt: die Frequenzforschung nach Hans Cousto, auf deren Grundlage Schultze seine Tracks in der Regel komponiert. Auch diese vier: Sie orientieren sich in ihrer Frequenz am Erdentag, am Uranus, am Mars und am Erdenjahr. Wem diese Form der Wissenschaft als esoterisch erscheint, der befindet sich wohl auf dem richtigen Weg: Akasha bedeutet Raum oder Äther, je nachdem, ob man Hinduisten oder Buddhisten fragt, und die Akasha-Chronik ist ein esoterisches Konzept vom „Buch des Lebens“, das auch Rudolf Steiner behandelte. Da scheint es nur ein kurzer Weg zum Querdenken zu sein, aber das muss ja auch gar nichts miteinander zu tun haben.
Bedauerlich ist, dass es sich für Schultze heutzutage nicht mehr lohnt, ein solches Album als physischen Tonträger zu veröffentlichen. Ihm selbst schwebt vor, es als Doppel-12“ herauszubringen, und die Idee klingt ausgesprochen reizvoll, auch wegen des psychedelischen Covergemäldes von Angela „AnChi“ Dollinger. Sei’s drum, auch als Stream oder Download steigt man gern ein und lässt sich auf diese retrofuturistische Reise mitnehmen, nach Goa oder ins All, ganz egal, auch gern auf einen Ball, nur bitte nicht dorthin, wo der Ball weg ist.