Von Matthias Bosenick (07.10.2014)
Um diesem Büchlein in aller Pracht gerecht werden zu können, ist es wohl erforderlich, sich mit dem schon recht umfangreichen Gesamtoeuvre über den fiktiven Allrounder Pratajev auseinanderzusetzen. Ohne dieses Vorwissen erscheint „Medizin und Fetisch“ wie ein zu sehr konstruierter Sohn von „Arnold Hau“, der zumindest einige unterhaltsame Geschichten zusammenfabuliert.
Holger Makarios Oley von Die Art und Autor Frank Bröker schufen ein dichtes Universum rund um den ebenso dichten Dichter Pratajev, den Oley bereits 1997 aus der Taufe hob. Als The Russian Doctors vertonten sie sogar die Gedichte des umtriebigen Russen Pratajev. In diesem neuen Buch nun bündeln sie Begebenheiten, Schriftstücke, Gedichte, Forschungsergebnisse rund um Paratjevs Bezug zu den Themenfeldern Medizin und Fetisch. Sie erzeugen ein Netz an historischen Abläufen, Neigungen, Abneigungen und Relationen zu anderen Personen, das sie in sich stringent halten und auf das sie mit jeder neuen Information zurückgreifen.
Das gelingt ihnen gut – doch sind die Schilderungen oft sehr gezwungen konstruiert und auf eine zu geradlinige, durchschaubare Weise absurd. Verquirltes dieser Art erschafft etwa Eugen Egner um Längen überzeugender. Häufig wirken die Ideen wie ein Lach-Imperativ. Deutlichstes Beispiel sind die Wortspiel-Namen, die irgendwann ermüden, darunter Tierpräparator Katzeschinski oder Dr. Melancholow sowie Ortsnamen wie Bolwerkow. Ein dem Projekt innewohnender Umstand ist sein eigener Nachteil: Pratajev soll Russe sein, doch sind viele Wortspiele und Reime nur auf Deutsch möglich; das macht manchen Witz unglaubwürdig und beeinträchtigt die Pointe.
All dies nimmt den Geschichten eine absolute Unterhaltsamkeit. Eine relative Unterhaltsamkeit liegt ihnen gottlob dennoch inne. Zwischen latentem Splatter (Medizin) und Altherrenphantasien (Fetisch) lässt es sich ungestört schmökern. Insbesondere in der Lyrik gelingt den Autoren viel Spaßiges. Man merkt, dass sie „Die Wahrheit über Arnold Hau“, das F. W. Bernstein, Robert Gernhardt und F. K. Waechter 1974 herausbrachten, sehr intensiv studierten. Dabei fällt umso deutlicher auf, wie brillant bundesdeutscher Humor schon in den 60er Jahren war und dass es davon Inspirierte ausgesprochen schwer haben, eine überzeugende Eigenständigkeit zu entwickeln.