Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit (Still Life) – Umberto Pasolini – GB/I 2013

Von Matthias Bosenick (12.09.2014)

Ein wunderbarer, stiller, poetischer, rührender Film gelingt dem als Regisseur noch zu den Newcomern zählenden Umberto Pasolini. Die Hauptfigur John May ist mit Eddie Marsan perfekt besetzt und ebenso perfekt ausgestaltet, die Filmsprache passt sich der Entwicklung dieser Figur an, das Ende ist konsequent und bewegend. Sensible Menschen verlassen das Kino nicht, ohne sich hinterher eine Menge Gedanken zu machen, und auch Filmanalytiker finden viele Details, an denen sie ihre Freude haben. Europäisches Kino in klassischer Art.

Mr. May arbeitet in London bei einer Behörde, die die Angehörigen von einsam Verstorbenen sucht. Findet sich auch nach langer, intensiver Suche niemand, wohnt May als einziger der Trauerfeier bei und lässt sie gestalten, als wäre sie für alte Bekannte. Weil May langsam und das Geld knapp ist, schließt sein Vorgesetzter die Abteilung und setzt May vor die Tür. Der erbittet sich die Zeit, den letzten offenen Fall abzuschließen: Billy Stokes, der anonym und alkoholkrank im Haus gegenüber verstarb, und der uneheliche Kinder, enttäuschte Geliebte, erbitterte Gegner, ehrfurchtsvolle Armeekameraden, ambivalente Ex-Arbeitskollegen, weinselige Mit-Obdachlose sowie eine zunächst verbitterte Tochter hinterlässt. Im Zuge seiner Recherchen zeichnet May den Hinterbliebenen ein liebenswertes Bild von Billy und bringt sie damit mindestens zum Innehalten.

Während May zu begreifen beginnt, dass sein 22 Jahre altes Leben in der Behörde, das er auch zu Hause fast zwanghaft schlicht hält und exakt ordnet, vorbei ist, und sich auf neue Verhaltensweisen einlässt, begibt er sich auf die Spur des sich als Raufbold und treue Seele entpuppenden Billy. Dabei begegnet er Billys Tochter Kelly und erkennt die Optionen, die das Leben abseits der vertrauten Pfade bereithält – und abseits der Toten, zu denen er mehr Bezug hat als zu den Lebenden um sich herum, da sein Leben genau so einsam ist wie das seiner verstorbenen Schützlinge.

Pasolini erzählt diese Geschichte mit brillanten Mitteln. So schlicht, wie Mays Leben ist, sind auch die Bilder, die es dokumentieren; sein Schreibtisch und sein Esstisch sind rechtwinklig abgezirkelt, so sind auch die Bildkompositionen. Selbst der geschälte Apfel ist ein Musterbeispiel an Ordentlichkeit. Natürlich erinnert das an die Filme von Aki Kaurismäki, aber das passt sehr gut. So langsam, wie May arbeitet, ist auch das Erzähltempo, dabei aber nie langweilig. Schritt um Schritt baut Pasolini das Geschehen auf, es ist stringent und stimmig, ohne dramaturgische oder filmische Turbulenzen. Im Wortsinne nimmt Mays Leben bald Fahrt auf, er bewegt sich in Zügen und Bussen, um Stokes‘ Angehörige ausfindig zu machen. Er lockert seine Krawatte, tauscht Weste gegen Pullover, gönnt sich, beim Verspeisen einer Schweinefleischpastete zu krümeln, und sammelt diese Übrigbleibsel dann doch ein. Die Farben werden intensiver, die Kamera weniger statisch. Manche Entwicklungen bleiben ungenannt, lediglich gezeigt: Als May einen Fisch geschenkt bekommt und zubereitet, misslingt ihm der. In einer späteren Einstellung sieht man die Gräten auf dem Teller. Ein andermal verdeutlicht Pasolini die Verbundenheit zwischen dem Rauhbein Billy und der sich sträubenden Tochter Kelly, indem er in beider Wohnung einen Sessel zeigt, dessen abgebrochenen Fuß ein Bücherstapel ersetzt; als May das bei Kelly wiederentdeckt, lächelt er zum ersten Mal.

Der ganze Film kratzt am Rührseligen und Kitschigen, kippt aber immer zur kunstvollen Seite. Auch der Schluss erscheint zunächst als dick aufgetragen, ist aber konsequent und rührt tatsächlich zu Tränen. Eddie Marsan verkörpert Mr. May absolut perfekt. Es ist erschreckend, aber glaubwürdig, dass dieser in Einsamkeit veraltete Mann lediglich 44 Jahre alt sein soll. Marsan kennt man aus „World’s End“ und als Fahrlehrer Scott in „Happy Go Lucky“ sowie aus Millionen Nebenrollen. Mit seiner Hauptrolle trägt er den Film, der auch ewig so weitergehen könnte. Der deutsche Titel ist üblich blöd, „Still Life“ ist ein schönes, treffendes Wortspiel, das man gerne beibehalten haben könnte.