Willie Nelson – Workin’ Man: Willie Sings Merle – Legacy 2025

Von Guido Dörheide (12.11.2025)

Der wilde, wilde Westen, liebe Lesenden, fängt gleich hinter Hamburg an. Dachte ich zumindest vor gut 40 Jahren, als die zwar großartigen, aber die Countrymusik nun nicht wirklich repräsentierenden Truck Stop die einzige Band waren, die in meiner Welt die Countrymusik repräsentierten. Johnny Cash war damals ein abgehalfterter Tablettenjunkie, der in einer Columbo-Folge sich selbst spielte, neben dem Studio in Maschen waren 30-Tonner-Diesel die beherrschenden Figuren im deutschen Country und ich wusste, dass es sowas wie Nashville gab, wo der kommerzielle Country zuhause war. Und der letzte Nagel an meinem persönlichen Sarg dieses Genres waren die „Good Old Boys“ bei den Blues Brothers.

Dank Rick Rubins Verdiensten um das Spätwerk von Johnny Cash fing ich dann in den 90ern an, mich ernsthaft mit Country und Western zu beschäftigen, und über die Highwaymen (Johnny Cash, Waylon Jennings, Kris Kristofferson und der hier abgekündigte Willie Nelson) und Townes van Zandt wurde ich dann auf den Alternative Country aufmerksam. Und stellte fest, dass es dort nicht um 30-Tonner-Diesel, sondern eher um die Steinbeck/Springsteensche Kehrseite des amerikanischen Traums sowie um Mama oder Züge oder Lastwägen oder Gefängnisse oder Betrunkenwerden geht. Und, dass die Tour de France auf ihrem Höhepunkt der Exzesse der 90er Jahre im Vergleich zur Countrymusik immer noch eine bescheidene, kleine Reiseapotheke darstellte.

Johnny Cash – keine Angst, liebe Lesenden, ich finde gleich den Weg zurück zu den beiden Protagonisten des hier besprochenen Albums – saß zwar, soweit ich weiß, nur eine einzige Nacht im Knast (wegen illegalen Blumenpflückens), Merle Haggard hingegen musste wegen Einbruchs drei Jahre absitzen und – hier schließt sich der Kreis – wohnte in seiner Zeit als Insasse einem der legendären Gefängniskonzerte von Johnny Cash bei und startete deshalb nach seiner Entlassung eine Karriere als Musiker. Und was für eine: „Okie From Muskogee“ (diese verdammten Okies – hier schließt sich dann ein weiterer Kreis, nämlich der zu John Steinbeck und seinen Früchten des Zorns) ist wohl sein bekanntestes Stück, dass „If We Make It Through December“ nicht von Kris Kristofferson, sondern ebenfalls von Haggard geschrieben wurde, habe ich tatsächlich erst durch das vorliegende Willie-Nelson-Album mitbekommen, und da gibt es noch viel mehr tolle Stücke, und viele davon, nämlich elf, sind auf „Workin’ Man: Willie Sings Merle“ enthalten.

Willie Nelson, der „Red Headed Stranger“, ist schon drei Jahre länger im Geschäft als Haggard, mittlerweile ist er 92 Jahre alt (Haggard ist immerhin auch schon 88) und haut jedes Jahre mehrere Alben auf den Markt. „Workin’ Man“ ist heuer sein zweites und enthält ausschließlich Haggard-Kompositionen; Nelson singt auf allen davon und spielt dazu auf seiner „Trigger“ genannten Gitarre, begleitet von Billy und Paul English (dr/perc), Kevin Smith (b), Bobbie Nelson (p) sowie Mickey Raphael an der Mundharmonika.

Bei Cover-Alben erstelle ich mir immer eine Playlist, die immer im Wechsel die Originale und die Coverversionen enthält, und diese Herangehensweise macht sich auch im vorliegenden Fall bezahlt: Das Titelstück „Workin’ Man Blues“ besticht im Original durch eine knackig fingergepickte Gitarre und Haggards pointierten, leicht schneidenden Gesang. Der Mann hat eine großartige Stimme, und fürwahr – so eine hat auch Nelson. Wenn auch eine ganz anders geartete: Sein immer leicht nuscheliger, nasaler und warm-weicher Gesang entlockt dem Stück ganz andere Facetten, auch die Gitarre klingt wärmer und sanfter, dabei macht er nichts anderes als weiland Merle Haggard, und dass Nelson das Stück auf ungefähr doppelte Länge ausdehnt, ist große Klasse. Dadurch gibt er der Band unter anderem Raum für tolle Klaviersoli und brilliert daneben auch mit zahlreichen Soli auf der Akustikgitarre. Also auf Trigger.

„Silver Wings“ ist ein ruhiges, hymnisches Stück, also quasi der Stadionrock im Country; bei Merle Haggard ist mir der Song nie groß aufgefallen, Nelson hingegen geht bei und macht aus den ursprünglichen knapp zweieinhalb Minuten ein Sechsminutenepos Neilyoungschen Ausmaßes. Ein leitet er mit Mundharmonika und Akustikgitarrengegniedel (jawohl, liebe Lesenden, um anständig zu gniedeln, bedarf es weder eines Verstärkers noch eines Verzerrers!) und beginnt dann betörend zu singen. Der Song plätschert vor sich hin und langweilt dennoch nie, es ist eine Freude, Nelson beim nasal genuschelten Intonieren zuzuhören und sich dann auf das nächste Mundharmonikasolo zu freuen, das vom nächsten Akustikgitarrensolo abgelöst wird.

Bei „Tonight The Bottle Let Me Down“ hält sich Nelson eng am Original, aber auch hier fällt wieder auf, dass Haggards Vortrag irgendwie die Hochglanz-Version des alternativen Country ist – der Gesang glänzt immer irgendwie chromblitzend und steht damit in schönem Kontrast zu den düsteren Aussagen der Texte –, während Nelson immer die leicht kaputte, aber charmante und zuverlässig funktionierende Plan-B-Variante der originalen Countrymusik liefert, und genau das macht seine Musik so einzigartig und so berührend. Sein leicht zitternder Gesang passt dann auch hervorragend zum Text von „Tonight The Bottle Let Me Down“, einem Song, indem der Protagonist beklagt, dass er sich überhaupt nicht genügend betrinken könne, um den Gedanken an seine verflossene Liebe („The one true friend I thought I’d found“) wieder loszuwerden. Und auch hier gilt wieder: Bei Haggard ist es recht konventionelle Country Music mit düsterem Text, bei Nelson ist es irgendwas komplett Neues, irgendwo zwischen Folk und Country und mit viel Klavier, und dazu viel Gitarre und obendrein wird die Harfe geblasen.

Ebenso macht es Nelson bei „Today I Started Loving You Again“: Während Haggard beigeht und den Text glitzernd und pardauzend rausposaunt, klingt Nelson wackelnd und nachdenklich, was dem Lied sehr gut zu Gesicht steht. Aber ich bin ungerecht: Haggard hat die Songs nicht als alter Mann, sondern in der Blüte seiner Jugend aufgenommen, während Nelson sie jetzt als vor Lebenserfahrung schier berstender Gentleman in den besten Jahren präsentieren kann – und fürwahr, er ist noch sehr gut in der Lage, hier mehr als überzeugend abzuliefern, natürlich singt, spielt und arrangiert er dann das jüngere Ich Merle Haggards an die sprichwörtliche Wand. Also Hut ab vor Haggard: Er hat das alles geschrieben und aufgenommen, und das in vortrefflicher Art und Weise, und jetzt kommt der alte, weise und virtuose Nelson und schickt sich an, ihm die Schau zu stehlen. Man sollte ihn als Nachteilsausgleich in eine Papiertüte singen lassen, Trigger verstimmen und einen Drehmomentschlüssel auf die Klaviersaiten legen, während man Ahornsirup in die Mundharmonika gießt. Es tut mir auch Leid, dass ich am Ende jedes Songs feststelle, dass mir Nelsons Interpretation besser gefällt als das Original. Also hier nochmal: Haggard hat den ganzen Kram geschrieben und er hat ihn toll aufgenommen, und dass Nelson das ganze jetzt in seiner ganzen Nelsonheit kongenial interpretiert, ist quasi ein Nobelpreis für Haggards songwriterisches und interpretatorisches Genie.

Aber genug herumgesülzt: Wir nähern und dem Höhepunkt all dessen, was mit Merle Haggards über jeden Zweifel erhabenen Werkes zu tun hat: „Okie From Muskogee“. Neben „Born In The USA“ und „Rockin’ In The Free World“ ist das wohl das am meisten missverstandenste (sic!) Lied in der amerikanischen Geschichte: Haggard lässt sich sehr ironisch darüber aus, dass in Muskogee, Oklahoma, USA kein Marihuana geraucht wird, keine LSD-Trips eingeworfen werden und keine offene Liebe praktiziert wird, während bei den langhaarigen Gammlern in San Francisco Sodom, Gomorrha und Babylon fröhliche Urstände feiern. Die evangelikale Rechte hat sich den Song zu eigen gemacht wie die CDU „Tage wie diese“ von den linksliberalen Ex-Punkrockern aus Düsseldorf und sich damit eindrucksvoll in beide Knie geschossen. Überflüssig, hinzuzufügen, dass Nelsons Interpretation des eh schon großartigen Songs wieder einmal mehr über jeden Zweifel erhaben ist.

Mit „Mama Tried“ und „I Think I’ll Just Stay Here And Drink“ folgen zwei wunderbare, melancholische typische Haggard-Songs, ersterer handelt von einem Lebenslänglichen ohne Möglichkeit der Bewährung, an den nur noch seine Mama glaubt, zweiterer ist ein Country-Blues ohne viel Hoffnung, dafür aber voller Melancholie. Wunderschön.

„Somewhere Between“ kenne ich vom gemeinsamen Album „Django And Jimmie“, das Haggard und Nelson 2015 veröffentlicht haben. Dort ergänzen sich die beiden sehr schön, hier stemmt Nelson es allein und er macht es wie immer großartig.

„If We Make It Through December“ beschreibt das Problem, durch den kalten Dezembermonat zu kommen, wenn man nicht in der glücklichen Lage ist, sich eine Weihnachtsstimmung leisten zu können. Und ich stelle fest, dass ich es mit „Help Me Make It Through The Night“ verwechselt habe. Das ist tatsächlich von Kris Kristofferson, während das Dezember-Lied von Merle Haggard stammt. In der Nelson-Version liefern sich die Akustikgitarre und das Klavier wieder wunderschönste Duelle.

Den Schluss des Albums bildet „Ramblin’ Fever“, das bei Haggard schöön vor sich hinstampft und mit einem tollen Saxophon als Verzierung aufwartet, während bei Nelson die Mundharmonika begeistert und Willie sich anscheinend eine Wäscheklammer auf die Nase gesetzt hat. So nasal wie hier klingt sein ohnehin schon nasaler Gesang auf dem ganzen Album nicht. Am Ende dann wieder Klavier und Gitarre, wunderbar!

Es ist toll, mitanzuhören, wie ein 92jähriger Ausnahmekünstler den großartigen Kompositionen eines nur vier Jahre jüngeren Kollegen so zahlreiche neue Aspekte abzugewinnen in der Lage ist, dass sie einerseits den Originalen ein würdiges Denkmal setzen und andererseits für sich selbst genommen auf das Wunderbarste funktionieren. Und allen, denen das Werk Merle Haggards bisher unbekannt ist, sei auf das Wärmste anempfohlen, sich mal mit einer seiner Best-of-Kompilationen vertraut zu machen, es lohnt sich sehr!