Von Guido Dörheide (19.10.2025)
Depression ist nicht nur „Komm, raff’ Dich mal auf und mach’ Dir positive Gedanken!“, Depression ist eine schlimme Krankheit, an der Jeff Tweedy Zeit seines Lebens leidet. Zeitweise war er von Aufputsch- und Schmerzmitteln abhängig – und fand sein Heil in der Musik. Erst mit Uncle Tupelo, mit denen er vier großartige Alben veröffentlichte, seit 1994 mit Wilco (einer der besten Bands auf dem Planeten, die man nicht zuletzt für „Yankee Hotel Foxtrot“ und den „Mermaid Avenue“-Zyklus, auf dem Wilco zusammen mit Billy Bragg unveröffentlichte Songs von Woodie Guthrie zum Besten geben, einfach nur lieben kann) und seit 2017 auch solo. Obwohl er bereits 2002 den Soundtrack „Chelsea Walls“ veröffentlicht hat und auch in der Zwischenzeit haufenweise Songs, Videos und Gastauftritte absolvierte.
Heuer hat sich Tweedy – nur zwei Jahre nach dem letzten – großartigen – Wilco-Album „Cousin“ – richtig was vorgenommen: Ein Dreifach-Album mit knapp zwei Stunden Spielzeit, das ausschließlich neue Songs enthält.
Während Tweedy mit Uncle Tupelo noch im Alternative Contry beheimatet war, erweiterte er mit Wilco sein musikalisches Spektrum in Richtung Alternative Rock, Art Rock und experimentellen Rock mit alternativen Folk- und Country-Einflüssen. Solo macht er eigentlich nichts anderes, nur hört es sich hier persönlicher, zurückgenommener und reduzierter an. Unterstützt wird er auf den meisten Stücken von seinen Söhnen Spencer (Schlagzeug) und Sam (Synthesizer) sowie von Sima Cunningham und Macie Stewart von den Bands Ohmme und Finom, ebenfalls wie Tweedy aus Chicago, Illinois, stammend. Dazu noch Liam Kazar am Bass und James Elkington an der Gitarre und der Mandoline, irgendwie ist hier eine very large Band am Start, dennoch schafft es Tweedy, die Intimität und Einsamkeit eines Solo-Albums auf jedem Stück rüberzubringen. Bei einer Band sind es eben auch immer manchmal der Gitarrist (meistens sogar der Gitarrist) oder der Pianist oder wer auch immer, die noch meinen, eigene Ideen und Einflüsse einbringen zu müssen, hier klingt alles 100% nach Tweedy. Das heißt, viel akustische Gitarre, nachdenkliche Texte und melancholische Melodien. Das Ganze wird auch auf einer Länge von knapp zwei Stunden nie langweilig, im Gegenteil, denn Tweedy hat sich viele neue, schöne Melodien ausgedacht und trägt sie mit charismatischer, wenn auch brüchiger Stimme vor. Dass außer ihm noch haufenweise andere Musiker beteiligt sind, merkt man erst, wenn man genauer hinhört, das heißt, wenn man Tweedys Gesang mal Tweedys Gesang sein lässt (wie man gleichzeitig schüchtern und dominant klingen kann, gehört zu Tweedys Geheimnissen) und sich weiter umhört. Ja Hammer, im Wald ist es gar nicht still, möchte man meinen.
Bei 30 Songs mache ich jetzt keine Song-für-Song-Betrachtung (Glück gehabt, liebe Lesenden, ansonsten hätten Sie sich jetzt mit proteinhaltigen Snacks und weingeisthaltigen Getränken für minnichstens siemenhalb Stunden bevorraten müssen – aber wir machen das jetzt ganz schnell und es wird weder wehtun noch ermüden), sondern konzentriere mich auf das, was mich besonders berührte. Und das nicht ohne vorher nochmal darauf hinzuweisen, dass „Twilight Override“ keine Längen, Überflüssigkeiten oder sonstige Ärgernisse enthält, sondern von Anfang bis Ende einen Genuss reinsten Wassers darstellt, der wirklich richtig gut ist.
Mein persönlicher Top-Schlager auf den drei Langspielplatten ist „Feel Free“: Hier, am Ende der zweiten Disc, fühlt sich Tweedy vollkommen frei, zu schleppend langsamen Schlagzeug und sparsam eingesetzter Akustikgitarre sechsunddreißigmal „Feel free“ zu singen, ohne dass es nervt oder langweilt. Er fordert die Hörenden auf, sich auf den Boden zu legen und zu träumen, Bilder aus einer Zeitschrift auszuschneiden, eine Fackel durch die Straßen zu tragen, alleine im offenen Meer zu schwimmen und vieles andere mehr. Das Ganze ist jedoch kein beklopptes „Sorge Dich nicht, lebe!“, sondern wird immer wieder von Gedanken wie „Say you’re full when we know you’re empty“, „Takin‘ it slow and easy even though your heart is racing“ oder „Hail Satan, doesn’t matter to me. Oh, you can be the devil every Halloween.“ bzw. „Feel free to never listen and always speak, to never learn and try to teach“ unterbrochen, und irgendwann vereint Tweedy sogar die Beatles und die Stones mit den Worten „Let it be or let it bleed, John or Paul, Mick or Keith“.
Gleich darauf, am Anfang von Disc 3, folgt „Lou Reed Was My Babysitter“, ein Song, der allein schon vom Titel her seine Aufmerksamkeit auf mich lenkte. Meine Aufmerksamkeit auf ihn meinte ich natürlich. Das Stück liest sich, wenn man nur den Text liest ohne es sich gleichzeitig anzuhören, tatsächlich wie etwas von Lou Reed zu Velvet-Underground-Zeiten, man lernt, dass der Rock’n’Roll niemals verlieren wird und dass die Toten niemals sterben, und dann kommt kurz vor Ende ein Gitarrensolo, wie es sich Lou Reed 1967 oder 68 nicht besser hätte ausdenken können.
„Twilight Override“ enthält außerdem einige Stücke, die sich sehr nach „Mermaid Avenue“ anhören, wie zum Beispiel „Betrayed“ oder „No One’s Moving On“. Das finde ich sehr schön: Die Anfänge von „Mermaid Avenue“ liegen nun schon mehr als 27 Jahre zurück, und noch immer schafft es Tweedy, das Gefühl von damals wiederaufleben zu lassen.
Dann gibt es kurze Stücke wie „Wedding Cake“, die kratzig, roh und demomäßig klingen, und wenn man sich mal auf den Text konzentriert, stellt man fest, dass sich hier gerade jemand unspektakulär und quasi beiläufig die Pulsadern aufschneidet.
Mit „Stray Cats In Spain“ geht es ebenso demomäßig, aber freundlicher weiter. Auch das kurz danach folgende Titelstück ist sehr unspektakulär, aber wunderschön, mit Mandoline statt Gitarre, und handelt von einem rastlosen Geist auf der Suche nach Stabilität.
Mit „Enough“ hält das Album dann ganz am Ende nochmal einen Knaller parat: Mit dem einleitenden Gitarrenriff verbeugt sich Tweedy vor den von ihm überaus verehrten Kinks (indem er „Waterloo Sunset“ im Maßstab 1:1 kopiert), um sich dann gesangsmäßig den George-Harrison-Kompositionen der Beatles anzunähern und die Frage zu stellen, ob man denn nun eigentlich noch mit dem Herzen ganz bei der Sache ist oder längst zu fertig.
Es ist kein Waldspaziergang, „Twilight Override“ komplett in einem Rutsch durchzuhören, es macht einen nicht fröhlicher und verlangt einiges an Anstrengung ab, aber es lohnt sich und es ist tolle Musik.