Von Guido Dörheide (02.08.2025)
Hach ja, liebe Lesenden – neulich im Schrebergarten, Thomas wartet, während Rüdiger wässert… (oder wie Rötger Werner Friedrich Wilhelm Feldmann auf dem Höhepunkt seines Schaffens tönte: „Wenn Günter Grass kifft, fickt Curd Jürgens Hühner – Jürgen tun seine Hühner Leid, aber das Gras bauen wir neu an“), aber dieser Beitrag soll nicht von Tom Waits und auch nicht von Brösel oder Werner, sondern von Roger Waters handeln. Gäbe es auf der einsamen Insel (former proud member of the EU) nur zwei Bücher, und wären diese betitelt mit „Die 100 größten Nervensägen des 20. Jahrhunderts“ und „Die 100 größten Nervensägen des 21. Jahrhunderts“ – Roger Waters nähme in beiden Werken einen der vorderen Plätze unter den ersten Zehn ein. Wo ist der verrückte Buchmacher, wenn man ihn braucht? Und welcher Buchmacher wäre so verrückt, eine derart glasklare Wette anzunehmen, ohne seinen sicheren Ruin zu riskieren? Fragen über Fragen, aber wurscht, der unrasierte Kotzbrocken, der einst überaus kompetent die Bassgitarre bei Pink Floyd bediente und zahlreiche ihrer wunderbaren Songs komponierte und sang, ist zurück mit einem im Jahr 2023 zu Prag aufgenommenen Live-Album, und mit eben diesem möchte ich mich hier auseinandersetzen.
Ich lasse hier mal außen vor, dass Roger Waters der smarteste Guy im Raum (in JEDEM Raum) ist, die Wahrheit für sich gepachtet hat, mit seiner israelkritischen Haltung in Teilen sicher richtig liegt, diese dennoch so brunzdumm äußert, dass es schwer fällt bis unmöglich ist, mit ihm einer Meinung zu sein. Es mag wohl angehen, dass Waters der innovativere Teil der Pink Floyd war, während David Gilmour solides Handwerk und gepflegte Langeweile repräsentierte – aber Pink Floyd ohne die herausragende Gitarrenarbeit eines David Gilmour wären auch nicht Pink Floyd, wie wir alle sie zu Recht in Erinnerung haben. Von Nick Mason und David Wright mal gar nicht zu reden, die Beatles waren ja auch nicht nur Jagger und Richards, aber ich schweife ab. Jahaaa, da merkt man, dass ich mich nach Kräften davor drücke, mich mit Waters’ jüngster Großtat zu beschäftigen, obwohl sie bei Lichte betrachtet nichts Anderes ist als eine wahre Großtat. Für sowas ist der Meister ja immer zu haben, wenn man mal in den Rückspiegel schaut (Obacht! Objects in the mirror are closer than they appear.), stellt man fest, dass sich Pink Floyd von den ersten, verspielten und nicht selten sehr lustigen Syd-Barrett-dominierten Frühwerken über experimentelle, schräge Ausprobierungen dessen, was möglich ist, zu Monolithen des psychedelischen Progressive Rock und Titanen des theatralischen Bombastes und letzten Endes zu virtuos, aber doch ein wenig langweilig aufspielenden Dinosauriern einer längst vergangenen Epoche entwickelten. Mein erster „richtiger“ Volkswagen war beispielsweise ein schwarzer Golf „Pink Floyd“ – ein in Wolfsburg konzipierter Marketing-Gag zur Hebung von Synergieeffekten zwischen dem mit den typischen José-Ignacio-Lopez-induzierten Qualitätsmängeln geplagten Golf Mk. 3 und dem äußerst langweiligen Pink-Floyd-Album „The Division Bell“. Best of both worlds sozusagen, obwohl ich den Wagen sehr geliebt habe und er auch anständig lief. Dennoch war er damals – 1994 – so langweilig wie Pink Floyd, das wurde zwar dem Golf, aber nicht der wunderbaren Band gerecht.
Was ich damit sagen will, ist, dass Pink Floyd in der Phase nach dem erzwungenen (und alternativlosem) Ausstieg ihres Gründers Syd Barrett bis hin zu Waters’ Ausstieg nach dem 1983er (eigentlichem Waters-Solo-Album) „The Final Cut“ mit Alben wie „The Dark Side Of The Moon“, „Wish You Were Here“, „Animals“ und natürlich „The Wall“ ihre spannendste und relevanteste Phase erlebten, und das war zu einem guten Teil Roger Waters und seinem kompositorischem Genie zu verdanken. Seine Live-Alben waren nicht immer toll, aber zumindest „Amused To Death“ aus dem Jahr 1992 war großartig und seine 1990er Aufführung von „The Wall“ am Potsdamer Platz in Berlin unter Zuhilfename zahlreicher Großkünstler:innen war ein Ereignis, das ich damals mit meiner Cousine Kathrin zusammen am Bildschirm verfolgte und seitdem immer mal wieder gerne auf CD abspiele. Von „The Dark Side Of The Moon Redux“ aus dem Jahr 2023 hingegen rede ich hier nicht – täte ich das, käme nur Schlechtes dabei raus. Ein Scheiß vor dem Herrn.
Nun aber, nur zwei Jahre nach dem unsäglichen „Dark Side“-Scheiß, legt Waters eine Liveaufnahme aus ebendemselben Jahr, nämlich 2023, aus Prag vor, und ich kann es nicht anders sagen – ich bin begeistert.
Waters’ launige Ansagen zu Anfang des Machwerks hin oder her (wer Pink Floyd liebt und Rogers politische Ansichten nicht mag, soll sich verdammt noch mal an die verfickte Scheißbar verpissen und so weiter) – er, der sich seit Jahrzehnten ähnlich wie Dave Mustaine an dessen Rausschmiss bei Metallica an seinem Ausscheiden bei Pink Floyd abarbeitet (nur dass er diesen ja selber herbeigeführt hat, also strenggenommen gar nichts zu jammern hat), sich aber dennoch immer über diese seine ehemalige Band definiert, was ja allein das Cover des aktuellen Werks mit seinen „Dark Side Of The Moon“-Prismata schon verdeutlicht, startet das Album mit DEM Pink-Floyd-Großwerk schlechthin, besser als „Money“, besser als „Wish You Were Here“, besser als „Another Brick In The Wall, Pt. 2“, nämlich mit „Comfortably Numb“. Das Gitarrensolo von David Gilmour ersetzt er durch einen wunderbaren weiblichen Gesangspart, und im Gegensatz zu Ice-T auf dem letzten Bodycount-Album lässt er nicht den „There is no pain, you are receding“-Teil weg, den ich an diesem Song über alles liebe. Das mit dem Gitarrensolo ist Blödsinn, aber da es sich um DAS ikonischste Gilmour-Solo aller Zeiten handelt, kann ich den alten unrasierten Egomanen verstehen, dass er das hier auslässt. Und der Gesangspart mit dem Geschützdonner im Hintergrund hat definitiv auch was. Gut gelöst, Mr. Waters! Auf jeden Fall hat er hier musikalisch schon mal gut vorgelegt, die Version ist – bis auf das fehlende Gilmour-Solo (hatte ich darauf schon hingewiesen?) – ganz hervorragend.
Und auch danach muss Waters beweisen, dass ER der große PF-Komponist ist und keiner anders – denn anstatt nun mal einige seiner Solo-Songs zum Besten zu geben, macht er mit „The Happiest Days Of Our Lives“, „Another Brick In The Wall, Pt. 2“ und „Another Brick In The Wall, Pt. 3“ weiter, aber das macht er sehr, sehr gut. Man sieht förmlich den Teacher über uns alle hinwegwatscheln. Ach ja, und der Sound von dem Ganzen ist über jeden Zweifel erhaben, und hier stört es Waters auch nicht, dass sein Live-Gitarrist die Gilmour-Parts 1:1 nachspielt, was er im Übrigen sehr gut macht. David Kilminster heißt der Spaßvogel, ein „n“ mehr als Lemmy und zwei Saiten mehr als dieser auf seinem Instrument. Guter Mann. Und am Schlagzeug glänzt Joey Waronker, der nicht nur aussieht wie Ringo Starr, sondern auch schon bei Beck, R.E.M. und auf den letzten Roger-Waters-Soloalben Großes geleistet hat.
Nach dem überbordenden Pink-Floyd-Intermezzo ertönt „The Powers That Be“ von Waters’ 1987er Soloalbum „Radio K.A.O.S.“, das hier echt gut klingt. „Radio K.A.O.S.“ war übrigens mein erster Kontakt mit Roger Waters: Ich las als 14-Jähriger die Kurzrezension des Werkes in der BRAVO und machte einen großen Bogen darum, weil mir der BRAVO-Rezensent in drei oder vier Zeilen deutlich machte, dass das nichts für mich sei. Und er hatte Recht, „Radio K.A.O.S.“ sollte wahrhaft nicht das erste sein, was man von Waters hört, wenn man ihn mögen will.
Mit „The Bravery Of Being Out Of Range“ kommen wir dann zu einem der Höhepunkte des Albums: Ursprünglich auf Waters’ besten Soloalbum „Amused To Death“ (1992) angesiedelt und dort knapp unter fünf Minuten lang, macht Waters hier einen knappen Zehnminüter daraus, der mit souligem 90er-Jahre-Feeling besticht und ein Zusammenspiel von Waters und seinen Backgroundsängerinnen aufweist, das mich sehr an Van Morrison erinnert (und mich hoffen macht, dass auch Waters sich irgendwann mal wieder fängt, was seine Außenwirkung betrifft). Der Song zieht sich deutlich länger als 1992, macht dabei unglaublich viel Spaß und wird dann nach knapp sechs Minuten noch um einen kurzen Spoken-Word-Part ergänzt, und dann singt Waters eine weitere, neue Strophe. Das hat was, und im Anschluss moderiert Waters ein neues Lied aus dem Jahr 2022 an, „The Bar“. Zunächst kündigt er an, sich nun mal wieder ans Klavier zu setzen, und dann erläutert er das Konzept des Songs „The Bar“. Eine obdachlose schwarze Frau trifft dort (also in New York City) auf eine Lakota-Sioux, und diese Anmoderation macht Waters in seinem Surrey-Dialekt so toll und so sympathisch, dass man ihm für kurze Zeit alle Ego- und Megalomanie verzeihen mag, und selbiges gilt für den Song als solchen: wunderbares Piano, wunderbar, denken Sie an meine Worte, toller Gesang, wirklich guter Gesang, mit rauher Stimme, großartige Melodie, keine Frage, in der Bar möchte ich auch gerne sitzen. Heilige Scheiße – ich lege hier eine Schallplatte auf, um sie zu verreißen, wie „DsotM Redux“, und dann haut der Typ so ein Stück raus wie „The Bar“. Und klingt bei den Ansagen davor und danach sowas von sympathisch, Menno ey!
An schließt sich ein weiterer PF-Marathon, mit „Have A Cigar“, „Whish You Were Here“, „Shine On You Crazy Diamond“, „Sheep“, „In The Flesh“ und „Run Like Hell“, und hier scheißt sich Waters garnix und lässt sämtliche Gilmour-Gitarrenparts 1:1 von Mister Kilminster kopieren. Ätsch man Bätsch, Pink Floyd funktionieren halt ohne David Gilmours Beiträge doch nicht. Was ja auch gar nicht ehrenrührig ist, wenn nur Waters sich nicht immer so sehr als das einzige Genie hinter Pink Floyd inszenieren täte.
Nach dem mal locker eine Albumlänge dauernden PF-Part ertönt dann „Déjà vu“ vom Waters-Soloalbum „Is This The Life You Really Want“ aus dem Jahr 2017 – auch wieder eine der nicht unbedingt schlechten Waters-Soloveröffentlichungen. Der Song atmet den Geist von „Wish You Were Here“ und macht deutlich, dass Pink Floyd immer als Band und nicht als Ein-Mann-Projekt am besten funktioniert haben und dass auch Waters solo immer dann sehr gut ist, wenn er sich daran erinnert. Danach spielt Waters das Titelstück von „Is This The Life…?“, ein toller Song, toll dargeboten. Eine wunderbare Abrechnung mit Donald J. Trump, die wieder einmal mehr deutlich macht, dass Waters nicht einfach nur ein ekliger rechthabender Egomane ist, sondern vielfach auch mit seinen Einschätzungen richtig liegt.
Dann wieder PF: „Money“, „Us And Them“, „Any Colour You Like“, „Brain Damage“, „Eclipse“, also ein wahres Feuerwerk an Hits von „The Dark Side Of The Moon“. Alle virtuos und stimmungsvoll dargeboten. „Two Suns In The Sunset“ ist dann wieder von „The Final Cut“, also eigentlich mehr Waters Solo.
Hernach begibt sich Waters wieder ans Klavier, zu „The Bar Part 2“. Vorher lässt er sich länglich über „Sad Eyed Lady Of The Low Lands“ von Bob Dylan aus (vom Album „Blonde On Blonde“ aus dem Jahr 1966). Und hier verzaubert mich Waters geradezu: Waters lässt eine wahre Liebeserklärung an Dylan von Stapel, bedankt sich bei ihm und erklärt dann, dass die „Sad Eyed Lady“ in seinem Song seine fünfte Ehefrau Kamilah ist, der Felsen in seinem Leben, und begrüßt sie dann im Publikum, feiert ihre Empathie und dass sie sich um ihre Brüder und Schwestern kümmert. Dann spricht er über seinen älteren Bruder John, der im Jahr vor dem Konzert verstorben ist und den er sehr vermisst. Er widmet den Song also Bob Dylan, seiner Frau Kamilah und seinem Bruder John und dann legt er los: Mit einer Art zu singen, die dem späten Bob Dylan sehr nahe kommt, begleitet zunächst allein von einem von ihm selbst gespielten Klavier, und der Song ist großartig. Dann kommt eine Gitarre hinzu und macht alles noch viel besser. Auch Waters’ Vater, an dem er sich schon 40 Jahre zuvor auf „The Final Cut“ abarbeitete, taucht auf. Das ist hier jetzt ein sehr persönlicher, verletzlicher und musikalisch über jeden Zweifel erhabener Roger Waters, und das Arschloch, das ich vor dem Hören dieses Albums in ihm sah, tritt ein wenig in den Hintergrund. Abgesehen davon ist dieser Song die beste Gesangsdarbietung, die ich je von Waters gehört habe. Zerbrechlich, nahbar, gefühlvoll – alles Begriffe, die ich zuvor niemals mit Waters in Zusammenhang gebracht hätte. „Outside The Wall“ schließt sich nahtlos hieran an und verdeutlicht zum Abschluss des Albums nochmal aufs Neue, dass Pink Floyd ohne Roger Waters nicht das gewesen wären, was sie mit ihm waren, gegen Ende stellt Waters die Musiker vor und hinterlässt dann das Publikum vermutlich ebenso ergriffen, wie ich es jetzt gerade bin. Who would have thunk.