Was meine Freundin gerne hört – die Musikkolumne: Was ist eigentlich mit Anne Clark passiert?

Von Onkel Rosebud

Zu den Songs, die meine Freundin immer und immer wieder hören kann, zählt auch „Our Darkness“ von Anne Clark. Allerdings muss es die 12-Inch-Version von 1983 sein, nicht einer der zahlreichen Remix-Aufgüsse, um das sogenannte Beste der 90er, 00er und 2010er-Jahre darin unterzubekommen. Mein Lieblingslied der früheren Dark-Wave-Queen ist „Heaven“ von 1985. Okay, sie schreit, als ob sie gleich ein Kind zur Welt bringen würde, ist aber trotzdem einer ihrer besten Songs.

Und danach? Was ist also eigentlich mit der Elektronik-Legende passiert? Die kurze Antwort ist: Anne Clark ist der Poesie verfallen. Und denjenigen, die der elektronischen Phase von Anne Clark mehr abgewinnen können, empfehle ich, weiterzulesen. Den anderen nicht. Denn die lange Antwort geht so: In den 90ern räumt sie ihrer Vorliebe für Folk und Klassik eine immer bedeutendere Stellung ein und verbindet diese mit ihrer Leidenschaft für Poesie. Anne Clark nimmt sich Gedichte von Rainer Maria Rilke und Friedrich Rückert an und vertont diese zu Neofolk-Balladen – zusammen mit Martyn Bates (bekannt für seinen geflüsterten, geheulten oder gestammelten Gesang in der Band „Eyeless In Gaza“). In den 00er Jahren geht das so weiter. Akustische Kammermusik prägt das Schaffen. Lyrics anstelle Elektronik. Die Dichterin wird begleitet von Gitarre, Piano, Streichern und Percussion. Ab und zu böllerte noch ein Techno-Beat.

Live in den 80er Jahren konnte man bei Anne Clark nichts falsch machen. Damals war es fantastisch, denn es gab nach dem Debütalbum nur die vier großartigen Alben („Changing Places“, „Joined Up Writing“, „Pressure Point“ und „Hopeless Cases“) und das Risiko eines langweiligen Songs war quasi gleich null. Anne Clarks lebensfeindlicher, unterkühlter Sprechgesang machte sie einzigartig.

Heute sind ihre Auftritte eher unspektakulär: Experimentelle, meditative Kunst. Perfekt vorgetragen, aber teilweise grausam jazzig. Intellektuell mit einem Hauch Klassik. Auf ihren Konzerten muss man für die hoch emotionalen Klassiker wie „Sleeper In Metropolis“ und „Our Darkness“ lange warten. Ihre Stimme hat trotz erfolgreich besiegtem Krebs nicht mehr diese depressive Wut. Auch auf ihren neueren Platten („Homage – The Silence Inside“, „Synaesthesia – Classics Re-Worked“) spürt man die Altersmilde. All das ist nachvollziehbar und, dass sie sich weiterentwickelt hat, gesteht man der zierlichen Frau aus London gern zu. Allerdings hat sie mich wegen Langeweile und Unglaubwürdigkeit abgehängt. Vielleicht sollte sie die alten Lieder ganz weglassen. Das wäre konsequent…

Überspitzt formuliert: In England kennt Anne Clark keine Sau. Denn Fakt ist, in Deutschland hat sie eine viel größere Fangemeinde als auf der Insel. Geht sie auf Tour, finden neun von zehn Konzerten auf dem Kontinent statt. Warum ist das wohl so? Ich vermute, weil wir die Texte nicht verstehen.

Onkel Rosebud