Von Matthias Bosenick (02.02.2014)
Selbst wenn man es erklärt bekommt, kann man das Konzept zum „Flug der Seeschwalbe“ nicht in seiner gesamten Komplexität und Genialität erfassen. Und wenn man es nicht erklärt bekommt, freut man sich über ein Live-Konzert mit an frühen europäischen Industrial erinnernde Loops und Gesang, die dem Internet sei Dank in Braunschweig, Sydney und New Jersey erzeugt werden, und über auf mehreren Leinwänden gezeigte Kuriositäten. In diese Melange ist per Sample- und Wortbeitrag das grobe Thema Rastlosigkeit mit allen Fassetten eingebettet. Ein sympathisches, bemerkenswertes, einzigartiges Vergnügen.
Die Zuschauer erleben dieses Kuriosum in der Kunstmühle in Braunschweig; in New Jersey und Sydney sind die Beteiligten ohne Beobachter. Was zu sehen ist: Eine Bühne mit zwei großen Leinwänden, zwei Luftballons in der Mitte, drei Luftballons links, ein Tisch mit Equipment und einen Sessel links, ein Tisch mit Equipment und drei Lampen rechts.
An dem Tisch links steht Elke Utermöhlen, an dem rechts Martin Slawig, die Video- und Übertragungs-Technik steuert Martin Kroll. Auf den linken der beiden mittleren Ballons ist Marc Sloan projiziert, der live in New Jersey mit Gitarren, Elektronik und Percussioninstrumenten arbeitet, auf dem rechten erlebt man Roger Mills, der in Sydney verfremdete Blasinstrumenten beisteuert. Elke Utermöhlen singt und bearbeitet ihre Stimme live, und wenn sie sich unbearbeitet dazwischenmengt, erinnert sie angenehm an die von Lisa Gerrard. Martin Slawig hat wie Marc Sloan und Roger Mills einen Apparat am Arm, den er sich von einer Wii-artigen Spielekonsole ausborgte und mit dem die drei auf eine virtuelle Sounddatenbank zugreifen können. Ihre Handbewegungen sind jeweils auf die drei Ballons links projiziert, ihren Griff in die Datenbank verfolgt man auf der linken großen Leinwand. Die zeigt auf blauem Grund eine stilisierte Weltkugel mit innen liegenden Städten, an die kleine Kugeln geknüpft sind, die jeweils für einen Sample stehen. Mit dem Sensor an der Hand steuern die Verknüpften nun durch die Weltkugel, greifen nach den kleinen Kugeln und lassen damit sofort einen Sound erklingen. Außerdem lässt Martin Slawig von seinem Platz aus diverse andere krude Samples los, während die Mitmusiker in Australien und den USA ihrerseits Krach machen und Elke Utermöhlen singt. Die drei Lampen rechts geben zudem via Farbgebung und Lichtintensität Auskünfte über Witterung, Tageslicht oder irgendeinen anderen bemerkenswerten Zustand an den drei jeweiligen Orten. Auf der rechten großen Leinwand sind unnatürlich bearbeitete Fotos zu sehen, vermutlich ebenfalls per Sensor angesteuert. Martin Kroll besorgt die Dokumentation in Wort und Bild und sorgt dafür, dass die Performance live im Internet zu sehen ist. Zu der gehört, dass Elke Utermöhlen sich bisweilen beinahe in Erika-Berger-Haltung in den orangefarbenen Sessel vor ihrem Pult setzt und mit Marc Sloan und Roger Mills das eigentliche Thema bespricht, das, das den Titel gab: „Der Flug der Seeschwalbe“.
Ausgehend von der Rastlosigkeit des Künstlers an sich, geht es dabei um Themen wie Heimat, Fremde, Reisen, Grenzen, Migration, Verfolgung, Fernweh, Heimweh, Freiheit. Die drei geben persönliche Statements ab und berichten von geopolitischen Verhältnissen, diskutieren über kenternde Flüchtlingsboote vor Lampedusa, Einwanderer aus Indonesien und Mexiko und vieles mehr. Die Form, dass nämlich Menschen auf drei Kontinenten miteinander musizieren und auf eine Datenbank zugreifen, stellt dabei ein eigenes dazu passendes Statement dar. Die Samples aus der Weltkugel wiederum ergänzen das Thema, denn sie zitieren Menschen aus aller Welt zu diesen Inhalten.
Klingt kompliziert? Vermutlich war es noch nicht einmal vollständig. Was zum Beispiel noch fehlt: Die fünf Künstler boten die Performance in Varianten innerhalb von 24 Stunden fünfmal dar, während in den Pausen eine geloopte und verfremdete Version davon im Internet lief. Die Künstler scheuten sich nicht vor unchristlichen Uhrzeiten, die trafen nämlich alle an allen Orten jeweils einmal. In Braunschweig gab es nach der Premiere am Freitag um 21 Uhr die nächste Show am Samstag um 3 Uhr, dann Frühstück mit Show um 9 Uhr, Kaffee und Kuchen mit Show um 15 Uhr und den Abschluss um 21 Uhr.
Als Zuschauer der Premiere erlebte man nun so etwas wie eine Reportage mit rhythmischem Lärm. Diese Sorte Industrial-Ambient mag für unbedarfte Hörer schwer verdaulich sein, wer aber mit Bands wie Klinik, Esplendor Geométrico oder Suicide aufwuchs, fühlte sich angenehm zu Hause. In diesem Mix aus Wort, Sound und Bild konnte man sich prima fallen lassen und dank der Inhalte sogar noch Diskussionsstoff mit nach Hause nehmen. Oder ins Foyer und das Café, wo sich alle mit glänzenden Augen sammelten und versuchten, das Erlebte zu begreifen. Hey, das war gerade Mega-Kunst auf Weltniveau, und das im kleinen Braunschweig, und das – von Leuten, die selbst immer noch mit glänzenden Augen herumlaufen und demütig strahlen, wenn man Freude an ihren Ideen zeigt. Diese Bodenständigkeit der Protagonisten von blackhole-factory macht deren Projekte jedes Mal so liebenswert.
Wer einen Eindruck vom Finale haben möchte: Das hat Steffi besucht, sie berichtet davon auf ihrer Seite Kult-Tour Braunschweig.
[Edit 12.02.2014] Um es noch etwas komplizierter zu machen: Offiziell war der Standort von Marc Sloan New York, weil er auch dort hätte spielen können, sich aber kurzfristig für seine andere Heimat New Jersey entschieden hatte. Das Trio von blackhole-factory beließ es bei der Benennung, weil es sie für greifbarer hielt.