Christof Dörr – Fast Weltweit – Verlag Andreas Reiffer 2025

Von Matthias Bosenick (25.05.2025)

Eigentlich erzählt „Fast Weltweit“ vom gleichnamigen Label aus Ostwestfalen, aus dessen Wurzeln in den Neunzigern die Hamburger Schule spross, etwa mit Bernd Begemann, Die Braut haut ins Auge, Die Sterne oder Blumfeld. Andererseits setzt Autor Christof Dörr dieses Interview-Mosaik zusammen wie einen Roman, erst Coming of Age, Abenteuer, dann Erfolgsgeschichte und zuletzt Drama und Psychogramm, durchgehend spannend, mitreißend, erhellend. Von sympathischen Jugendlichen in der Provinz, die davon träumen, mit ihrer unzeitgemäß deutschsprachigen Musik berühmt zu werden, und dieses Ziel gegen alle Erwartungen sogar erreichen. Mit einigen Opfern.

An sich ist die Geschichte ja allgemeingültig, überall in der Welt finden sich in der Provinz ambitionierte Musikschaffende, die vom großen Erfolg träumen. In der Regel erfüllt sich der maximal in einer Tanzkapelle bei Schützenfesten oder im Kellerproberaum, nicht so bei den Protagonisten von Fast Weltweit, die ihre Kreativität bündeln und sie in die große Stadt tragen, um dort Karriere zu machen. Christof Dörr sprach mit vielen Beteiligten, er spinnt ein feinmaschiges Netz um den Themenkomplex Fast Weltweit – und lässt eine Lücke, zwangsweise, denn Jochen Distelmeyer von Blumfeld verweigert die Teilnahme. In seinem Teil der Geschichte steckt dann auch ein wesentliches Drama, das die Gruppe zum Ende preisgibt.

Zwar geht Dörr in der Rekapitulation chronologisch vor und lässt die Beteiligten relativ passgenau zu Wort kommen, doch erzählen sie nicht nur den historischen Abriss des kleinen Labels, denn hier kommt weit mehr zum Tragen. Um die Existenz und also die Motivation von Fast Weltweit zu verstehen, muss man die popmusikalische Lage in Westdeutschland in der zweiten Hälfte der Achtziger kennen: Deutschsprachige Musik war von der Neuen Deutschen Welle zu einer Straftat verkommen, den Rest übernahmen Schlager und Altrocker. Es gehörte also Mut dazu, sich im Pop zu verorten und deutsche Texte zu verfassen, denn auf Englisch wäre es jederzeit einfacher gewesen. Diesen einfachen Weg wollten die Ostwestfalen aus Bad Salzuflen aber nicht gehen. Eben deshalb fanden sie sich. Als Freunde, die einander kreativ unterstützten.

Zu diesem gemeinsamen Weg gehörten indes nicht ausschließlich Musizierende, einer musste schließlich Produzent sein, zwei journalistisch vorgehen. Das erhöht die Sprecherzahl und damit die Bandbreite der Themen, die dennoch relevant für die Grundgeschichte bleiben. Feminismus, Machotum, männliche Dominanz gehören dazu, beleuchtet von Bernadette (La) Hengst und den schreibenden Schwestern Kersty und Sandra Grether, die alle wichtige Pflöcke setzten, denen der äußere Anschein anhaftet, problemlos erfolgt zu sein, und diesen Anschein die drei Frauen bedauerlicherweise hinfortfegen müssen, nur bedingt im Kreise von Fast Weltweit, umso energischer im Rest des Business’, etwa bei Labels oder Magazinen. Auch gehört dazu die Situation in der Provinz, in der die Beteiligten mit dem Forum in Enger einen wichtigen Handlungsort für alternative Musik und somit Inspiration für die eigene Kunst fanden, diesen aber dennoch teilweise nicht zu schätzen wussten und mit der Provinz haderten. Hürden wie abwinkende oder pleite gehende Labels wie Zickzack sowie die anfängliche Ablehnung der Postille Spex stehen außerdem im Weg.

Bernd Begemann nun war der erste, der Ostwestfalen verließ. Er ging nach Hamburg und generierte damit für die anderen einen Sog – kreativ, nämlich darin, sich in der Heimat darauf vorzubereiten, fit genug für die große Welt zu werden, und den Mut betreffend, dann auch wirklich weitere Schritte zu unternehmen. So zog es einzelne Leute nach Köln oder Berlin, erst später einige auch nach Hamburg. Oder wieder zurück nach Ostwestfalen und raus aus der Musik, wie im Falle von Michael Girke von der Band Jetzt!.

Die ganzen Verstrickungen der Beteiligten untereinander bilden den Kern der Geschichte, das gemeinsame Wachstum, die Findungszeit. Und dann allmählich die individuelle Ausprägung, von Jetzt!-Musiker Mijk van Dijk, der von Berlin aus in den Techno abwanderte, von Achim Knorr alias Der Fremde, der von Köln aus Comedy macht, von Bernadette La Hengst, die ihren Traum von einer ausschließlich weiblich besetzten Band erfüllt und dann doch solo reüssiert, und natürlich von Frank Spilker und Jochen Distelmeyer, die dem Fast-Weltweit-Paten Bernd Begemann nach Hamburg folgen und dort als Quasi-Außenarm des ostwestfälischen Labels Mitbegründer der Hamburger Schule werden.

Und dann folgt das Drama. Zum Geleit des Buches heißt es, man würde verstehen, warum sich Distelmeyer daran nicht beteiligen wollte. Es dauert bis kurz vor Schluss, bis dies eintritt. Denn es kommt zum Bruch zwischen ihm und Begemann, aus politisch-ideologischen Gründen, wie es in der linken Szene leider Usus ist, die sich lieber gegenseitig zerfetzt, als gemeinsame Gegner ins Auge zu fassen. In Distelmeyers Horn stießen auch die Goldenen Zitronen, die Begemann als Teil der Hamburger Schule ins Aus stießen. Dieser Aspekt des Buches rückt einzelne Stars und Helden in ein unerwartetes Zwielicht und von einem Sockel herunter; da ist es bedauerlich, dass man weder von Distelmeyer noch von den Goldies etwas dazu erfährt, etwa ihre heutige Sicht auf die Dinge von vor 30 Jahren. Man schluckt jedenfalls schwer.

Dissonanzen sind bei der Lektüre indes allgegenwärtig, subliminal zunächst, kaum angedeutet, schon wieder abgeschwächt. Die Interviewten singen das Lied der Freundschaft, der Harmonie, der symbiontischen Kreativität, das man auch unglaublich gern hört, weil es so anrührend ist, so warmherzig vorgetragen. Ja, Fast Weltweit zerbrach 1989, 1990, aber das sind doch weiterhin alles Freunde, möchte man wissen, und bekommt die Zustimmung dann auch weitgehend. Es hat etwas von „Es“ von Stephen King: Lediglich Gralshüter Frank Werner, in dessen Garage damals die Aufnahmen von fast Weltweit entstanden, hat ein Adressbuch mit allen Nummern, bei den anderen verblassen einzelne Einträge, und man erwischt sich dabei, wie man darob so manches Tränchen verdrückt. Und doch verlässt man diese Geschichte voller Hoffnung, denn das Label erfuhr jüngst eine Reaktivierung, einzelne Archivaufnahmen fanden den Weg an die Öffentlichkeit und das letzte Wort über die größten musikalischen Geheimnisse – etwa Distelmeyers Aufnahmen mit Die Bienenjäger – ist noch nicht gefallen.

Man schließt sie alle ins Herz, jede, jeden, mit ihren Motivationen, Emotionen, Kreationen, findet zu einzelnen einen neuen Zugang und zu anderen den alten wieder, räumt mit Urteilen und Vorurteilen auf und wünscht sich, die ganze alte Musik mal zu hören zu bekommen. Auszugsweise geht das, Frank Werner kuratierte eine Spotify-Playlist, die am Schluss per QR-Code abrufbar ist und bei Begemanns erster Band mit dem schönen Namen Vatikan startet. Eine Zeittafel und eine ausführliche Liste der Beteiligten runden diese Gesprächssammlung ab.

Und keine 50 Kilometer weiter gab es in Detmold, ebenfalls Ostwestfalen, gleichzeitig eine Indierock-Szene, die mit Christopher „Krite“ Uhe und Dirk „Schneider TM“ Dresselhaus ebenfalls zwei bis heute wichtige Vertreter abwarf. Die etwa ab 2001 mit Vredeber Albrecht das Projekt Paincake betrieben, und der Mann war ab 2003 Keyboarder bei Distelmeyers Band Blumfeld. Alles zieht Kreise, einige sogar Fast Weltweit.