Korhan Futacı – Heavyweight Rehearsal Tapes – Puma Records 2025

Von Matthias Bosenick (27.03.2025)

Noch vor dem offiziellen Start seines neu zusammengefundenen Quartetts gewährt der Istanbuler Untergrund-Jazz-Held und Saxophonist Korhan Futacı der Öffentlichkeit Einblicke in die Arbeitsweise seines komplett türkisch besetzten Star-Ensembles: Die „Heavyweight Rehearsal Tapes“ sind genau dies, bei Proben in Groningen mitgeschnittene Aufnahmen der vier Musiker – neben dem Chef: Barış Ertürk (Baritonsaxophon, Effekte), Esat Ekincioğlu (Kontrabass) und Mehmet Ali Şimayli (Schlagzeug, Synthies). Heraus kommt eine mitreißende Jazzreise vom Orient zum Okzident, die den Free Jazz im Zaum hält und wundervolle Landschaften zeichnet.

Aufnahmen von Jazzmusikern aus deren Proberaum, das muss ja chaotisch sein, denkt man – und ist direkt überrascht, wie zugänglich das gesamte Album ist. Der Auftakt „Nal“, der auch als Alternativ-Take der Rauswerfer ist, beginnt beinahe wie ein Marsch, stark melodisch, und zwar auf eine Weise, die sofort Assoziationen mit dem Orient weckt. Es könnte sich um einen alten Soundtrack handeln, zu einem Film, der im Nahen Osten spielt. Die Saxophone ertönen warm und satt, der Zugang fällt leicht, die experimentellen Einwürfe garnieren den positiven Eindruck noch. Einmal mit Profis arbeiten!

Diese Profis sammeln sich zu Beginn von „Zaman“ zunächst, sortieren sich, begeben sich in Startposition. Mit ihren Instrumenten erzählen sie eine Geschichte, ohne dabei greifbare Musik nach herkömmlichen Mustern zu erzeugen. Nach dem Startschuss galoppiert das Quartett dann los, munter im Free Jazz, in den es abermals orientalisch konnotierte Melodien einflicht, sie alsbald sogar laut hinausposaunt, besser: hinaussaxophont. Das Stück hält auch reduziertere Momente bereit, man hört Zwischenrufe, und dann findet sich alles in einem geordneten Groove mit einem getröteten Chaos wieder. Energie!, will man schreien, und zapft diese Quelle bereitwillig an.

Saxophon und freier Jazz, man denkt an John Coltrane, natürlich. Orientalische Melodien zu getragenen Rhythmen, das kennt man im Okzident von Loreena McKennitt. Moderne, kraftstrotzende, freie Jazzmomente, die kennt man auch von The Thing, etwa von deren Zusammenarbeit mit Neneh Cherry. An diese Kombi denkt man bei „Pus“, nachdem die Passage mit dem nervösen, irrsinnig schnell von Hihats getriebenen Schlagzeug mit dem sanft hallenden Saxophon hinter sich gelassen hat und die Blasinstrumente allmählich in höchsten Tönen auseinanderdriften. Aber Vergleiche sind hier gar nicht notwendig, das Gehör zieht sie eben automatisch, wo es dazu in der Lage ist. Das ergibt dann immer wieder Momente, die einem vertraut vorkommen, obwohl sie es nicht sein können, und die ein sofortiges angenehmes Zuhausegefühl vermitteln.

Als langsamer Kopfnicker beginnt „Bilmediğim ne çok şey var“ („Es gibt so viele Dinge, die ich nicht weiß“), abermals mit eingestreuten Zwischenrufen. Doch das Stück schraubt sich hoch, es putscht sich auf, bleibt dabei aber im Tempo unverändert. Nach einer Weile beruhigt es sich wieder, und man nimmt gar nicht wahr, dass dieses Stück – wie das zweite – über zwölf Minuten lang ist. Zuletzt kehrt das Quartett zurück zu „Nal“, hier als „Take 2“ ausgewiesen, das es indes komplett anders errichtet: Ein hyperventilierendes Saxophon lässt die Rhythmen eher im Hintergrund erahnen, die Anleihen an den Anfang bekommt man tatsächlich erst ganz zum Schluss.

Bandkopf Futacı hat seit 1993 einen felsenfesten Stand als Komponist, Saxophonist, Sänger und Produzent im Istanbuler Jazz-Untergrund. Seine Karriere begann er mit Gruppen wie NaapJazz, Tamburada, DANdadaDAN und dem Kara Orkestra, seit 2019 tritt er als Solist in Erscheinung. Ebenfalls als Komponist sowie als Spieler diverser Blasinstrumente tritt der Istanbuler Ertürk auf, der 2017 sein Debütalbum „One Day, One Man“ veröffentlichte und seitdem an unzähligen Aufnahmen beteiligt war. Şimayli ist Schlagzeuger und Komponist aus Istanbul, der zwischenzeitig auch von Basel aus arbeitet. Und den von Groningen aus agierenden vielbeschäftigten Ekincioğlu kennt man unter anderem vom AVA Trio, von Kuhn Fu sowie als Solist, Improvisateur und Komponisten. Eine versierte Band mithin, und wenn die „Heavyweight Rehearsal Tapes“ lediglich ein mehr oder weniger aus dem Ärmel geschüttelter Gig im Proberaum sind, wie grandios muss dann ein komponiertes Album dieses Quartetts sein!