Von Matthias Bosenick (16.02.2025)
Was ein Mammutwerk! Über 440 Seiten dick ist das neue Comicbuch von Craig Thompson, der damit zum dritten Mal nach „Blankets“ und „Habibi“ die Buchregale sprengt – und dieses Mal auch die Konventionen de Mediums: „Ginsengwurzeln“ ist Autobiographie, Reportage und Geschichtsbuch in einem, ist selbstanalytisch, philosophisch, politisch, psychologisch, schonungslos, spannend, aufschlussreich und wie von ihm gewohnt extremst gut gezeichnet, designt, arrangiert. Permanent entweicht einem bei der Lektüre ein „wow“, wenn er seine eigene Kindheit unter Ginseng-Farmern und Hardcore-Christen in Marathon, Wisconsin, mit weltweiten Rechercheergebnissen rund um die mystische Menschenwurzel überlappen lässt. Man kann das Buch nicht weglegen, auch wenn es einem die Arme zerdrückt.
Mit seinem Zweiten Buch „Blankets“ setzte Thompson 2003 einen dicken Pflock in der Comicszene; darin verarbeitete er seine Adoleszenz als vielschichtige Coming-Of-Age-Graphic-Novel. Die Sache mit den „Ginsengwurzeln“ ließ er damals weg, und nicht nur das, auch seine Schwester verschwieg er, aus dramaturgischen Gründen, weil sein Bruder damals nämlich unter anderem im Meta-Kontext mit den Comics die wichtigere Rolle spielte. In seinem neuen Buch gestattet er sich den Kniff, dies als Dialog mit seiner Schwester zu thematisieren: Man verfolgt, wie sie überlegen, ob es sinnvoll ist, sie in dieser Quasi-Fortsetzung von „Blankets“ plötzlich auftreten zu lassen. Und schon ist man mittendrin in Thompsons Alltag, ist stiller Beobachter und Anteilnehmer, auch an den Seelen- und Körperqualen des Autors, an den Auseinandersetzungen mit den nach wie vor bisweilen realitätsverneinend religiösen Eltern und ihrer Haltung dazu, dass er sie genau so darstellte (und dies hier fortsetzt), und an dem ambivalenten Verhältnis zu seinem Bruder, der hier sogar einzelne Sequenzen selbst beiträgt. Die drei Geschwister diskutieren und interpretieren den Einfluss, den die Eltern, die Religion und der Ginseng als Landwirtschaftsprodukt wie als Identifikationsobjekt für eine große Region auf die Entwicklung der drei Charaktere hatten.
Das alles liest man schon echt gern, weil es durch die grafische Darstellung den Eindruck erweckt, man begleite Thompson unentwegt, durch Landschaften, Gebäude, Agrarland. Und das nicht nur im Kontext mit der Familie, sondern auch mit den früheren Nachbarn des längst Weggezogenen, die ebenfalls Ginseng anbauten und von der Entwicklung des Marktes und anderer Aspekte erzählen. Zusätzlich reist Thompson nach Korea und China, um dem anderen Ginseng nachzuspüren, der Geschichte der Wurzel auf der Welt und auf den verschiedenen Kontinenten, geografisch also wie kulturhistorisch, denn der wie Menschen aussehenden Wurzel wird allerorts Mystisches wie Gesundheitsförderndes beigemessen. Thompson führt über fast ein Jahrzehnt hinweg stapelweise Gespräche, die er in diesem Buch gar nicht alle verwerten kann und die er freundlicherweise minutiös im Anhang nachzeichnet.
Aus seinen Informationen und Emotionen formt er nun dieses Buch, besser: diese Bücher, denn in den USA erschien „Ginseng Roots“ über mehrere Jahre in zwölf einzelnen Ausgaben. Diese gebündelte Version ist im Originaltext sogar noch gar nicht zu haben, auf Englisch gibt es lediglich die Sammelbox mit Bonus-Tracks, die wiederum hier nicht alle enthalten sind, etwa „Hello Chunky Root“, das kleine auf sein Debüt „Goodbye Chunky Rice“ anspielende Mini-Heft, das mit dem zweiten „Roots“-Teil erschien. Diese Buchfassung soll auf Englisch erst im Laufe des Jahres herauskommen. Aber das nur am Rande.
Dieses dicke, schwere Buch nun erzählt all das, Persönliches, Historisches, Politisches, und zwar kunstvoll miteinander verwoben, grafisch wie inhaltlich. Thompson berichtet nicht linear, man muss die losen Wurzelenden im Kopf behalten, wenn man das Buch liest, weil der Autor wie in einer mehrarmigen Spirale fortwährend zu den einzelnen Aspekten zurückkehrt und sie nahtlos fortsetzt. Auf diese Weise langweilt kein einziger Aspekt, und es gelingt Thompson damit, sie alle in Bezug zu einander zu setzen. Selbst, wenn man sich zwischendurch fragt, was der augenblicklich dargestellte Aspekt mit dem Thema zu tun hat, braucht es nur ein Bild, eine Sprechblase, einen Strich, und Thomson stellt die Verbindung her. Und das grafisch so exorbitant überwältigend, dass einem das Thema Ginseng auch scheißegal sein kann, um an dem Buch riesengroße und tonnenschwere Freude zu haben.
Erst in den letzten zwei, drei Büchern gibt Thompson das Zirkulierende zugunsten einer gebündelteren Linearität auf, und man muss konstatieren, dass der Erzählfluss dann etwas an Schwung verliert. Die Sache mit der in Mitleidenschaft geratenen Hand entwickelt etwas Selbstmitleidiges, die Schwermut des Autoren überschreitet den Zustand Information und wird zur mitschwingenden Grundstimmung, aber er behält sein Zeichentalent und seine schonungslose Selbstbetrachtung bei und generiert so beständig weitere Aha-Momente, die einem auch noch die Augen übergehen lassen. Opulenz in Hülle und Fülle! Man möchte alle Seiten herausnehmen, vergrößern, einrahmen und sich als Kunst an die Wände hängen. Viele Wände bräuchte man dafür, aber sie wären mit grandioser Zeichenkunst bedeckt.