Von Matthias Bosenick (06.02.2025)
„Spiegelmacher“ ist das zwölfte Album des Quartetts Reichenhall – seit Sommer 2022! Die Berliner – und nicht etwa Bayern – toben sich hier in einer Art abstraktem Downbeat aus, in dem die Idee, der Sample, der Impuls eine höhere Gewichtung erfahren als die einschmeichelnde Melodie oder die Tanzbarkeit. Spielten Kruder & Dorfmeister ein Album für Warp Records ein, es klänge vermutlich wie „Spiegelmacher“, also wie Chill-Out-Musik, die die Hörenden herausfordert, weil hier ganz viel passiert, aber Dancefloor-Beats oder gewöhnliche Harmonien keine Relevanz haben. Der Spiegel zieht sich als Sujet durch die sechs teils überlangen Tracks und lädt zum Reflektieren ein.
Alle vier Beteiligten bringen einen Fuhrpark mit, der dafür vorgesehen ist, synthetische Sounds zu generieren; das zu wissen, ist keine schlechte Ausgangslage für den Genuss und das Verständnis dieses Albums. Dabei ist die Zusammensetzung der Musiker an sich schon bemerkenswert: So kennt man den Maler und Multimediakünstler Bernhard Wöstheinrich auch von der Doom-Jazz-Metal-Band Anchor And Burden, hier bringt er Keyboards und Synthies mit. Lukas „Radiomodul“ Schmolzi ist Gewerkschafter, hier ordnet er seine Loopmaschine in die Prozesse ein und übernimmt die Produktion. Mit Noise und Dark Ambient befasst sich Mathieu Sylvestre, bisweilen auch als Sonus Eorum, und bringt damit beste Voraussetzungen für Reichenhall mit, außerdem seine Expertise an Looper und Electronics, indem er für dieses Album in Echtzeit Sounds transformiert. Mit Father Ed macht Volker Lankow ansonsten Stoner-Krautrock, hier besorgt er Soundscapes und Loops.
Heißt: Eine Menge Samples fließen in diesen Sound ein, die nicht zwingend elektronisch grundiert sind, etwa Blasinstrumente oder menschliche Stimmen. Diese setzen Tupfer in dem ansonsten vornehmlich elektronisch konnotierten Sound, dessen Beats, sofern sie überhaupt in Erscheinung treten, so gebrochen sind wie etwa von Autechre, also nicht plakativ basslastig und stumpf auf die Viertel angelegt, sondern gebrochen, fragmentiert, gebeugt. Drumherum gestalten die vier, wie es die Zuständigkeitsbeschreibung schon vorgibt, Soundscapes, mal dem Ambient nahe, also flächig, mal abstrakt, zersplittert, glitzernd, kantig, und nicht selten auch beides gleichzeitig.
Auf „Spiegelmacher“ entsteht keine gute Laune, die Grundstimmung ist eher dunkel, aber nicht depressiv. Jeder Track birgt Geheimnisse, die zu entschlüsseln das Ohr beständig bemüht und mit dem Hinweis auf die titelgebende Berufsbezeichnung teilweise auch in der Lage ist. „Der Spiegelmacher arbeitet in der Stille der Nacht, seine Hände formen das Glas, Funken tanzen beim Erhitzen des Glases“, sagt die Band in der Info. „Das Licht trifft auf unregelmäßige Oberflächen und erzeugt Wellen und Brechungen.“ Das kann man durchaus hören, die zwingende Folge daraus geben Reichenhall außerdem gleich mit: „Die Effekte verwandeln die Realität in Kunst.“ Genau das – und das schon zum zwölften Mal in nicht einmal drei Jahren.
Wobei, am im Juli 2022 erschienenen Debüt „Hunt And Lore“ waren offiziell lediglich Wöstheinrich und Schmolzi beteiligt, Sylvestre trat im Dezember 2022 beim Nachfolger „Muschelkalk“ hinzu und Lankow im Mai 2023 beim dritten Album „Perpetuum Polygon“. Kuriose Titel ziehen sich überdies durch das Werk des Quartetts, weitere Alben heißen unter anderem „Café Morgenstern“ oder „Mäusebunker“, die Tracks auf „Spiegelmacher“ tragen Titel wie „Eulen im Lichtweg“ oder „Baron Reflektion“. Kunst kann also auch Spaß machen, das sollte man beim Genuss der Musik von Reichenhall nicht außer Acht lassen.