Ethel Cain – Perverts – Daughters Of Cain Records 2025

Von Guido Dörheide (17.01.2025)

Ich muss zugeben, dass der ganze Ethel-Cain-Hype der vergangenen Jahre komplett an mir vorübergegangen ist, ebenso der Fakt, dass es schätzungsweise 200.000 Memes gibt, die sich mit Ethel Cain und ihren düsteren Songinhalten beschäftigen, bzw. sich teils darüber lustig machen. Auf „Perverts“ aufmerksam geworden bin ich durch einige begeisterte Reviews, nach deren Lektüre ich den Eindruck hatte, dass jemand, zu dessen Lieblings-Singer/Songwriterinnen Lana del Rey, Anna von Hausswolff, Lady Gaga und Chelsea Wolfe zählen, unbedingt mal in das Album reinhören sollte. Und sich danach noch mal mit allem beschäftigen sollte, was Ethel Cain vorher veröffentlicht hat. Und Bingo: Kurz in „Perverts“ reingehört, festgestellt, dass das definitiv was für mich ist, und dann erstmal die ersten Singles/EPs „Bruises“, „Carpet Bed“, „Golden Age“ und „Inbreds“ sowie das Debütalbum „Preacher’s Daughter“ (2022) durchgehört.

Während sich die EPs tatsächlich wie eine sehr finstere Version von Lana del Rey anhören – also quasi Albtraum-Pop – ist das 75minütige „Preacher’s Daughter“ dann ein echtes Brett, das sich anhört, als hätten del Rey und Chelsea Wolfe gemeinsam einen Absinth-und-Horrorfilme-Abend absolviert und dazu musiziert. Auf dem Album (jahaa, ich weiß, hier geht es nicht um „Preacher’s Daughter, sondern um „Perverts“, trotzdem muss ich mich erstmal über ersteres Album auslassen, um meine Begeisterung für „Perverts“ irgendwie angemessen zum Ausdruck bringen zu können) erzählt Hayden Silas Anhedönia die fiktive Lebensgeschichte ihres Alter Egos Ethel Cain, die, wie aus in Interviews getätigten Aussagen zu entnehmen ist, teils auf Erlebnissen und Erfahrungen aus Anhedönias eigener Jugend basiert. Aufgewachsen in einer fundamentalistisch-religiösen Familie im Süden der USA (wie Anhedönia, die sich zunächst mit 12 als schwul und mit Anfang 20 als transsexuell outete), befreit sich Cain (die fiktive Figur) aus der von sexueller Gewalt, Abwertung und Manipulation geprägten Priesterfamilie und geht auf der Suche nach sich selbst und einem lebenswerten Leben einige Liebesbeziehungen ein, die von Gewalt und Drogenmissbrauch geprägt sind und schließlich zum gewaltsamen Tod Cains durch ihren letzten Partner führen. Am Ende meldet sie sich aus dem Jenseits und fragt sich immer noch, ob sie nicht gut ist und ob sie nicht ihm (ihrem Partner und Mörder) gehören könnte. Das alles trägt sie mit einer klaren, tiefen Stimme zu dunkler, von Klavier und Drone-Gitarren dominierter Musik vor. Der eingängigste Titel auf „Preacher’s Daughter“ ist „American Teenager“, ein gitarrenlastiges Stück zeitgenössischen Neo-Folks, das auch gerne im Radio laufen könnte. Wenn nur nicht Gewalt, Verzweiflung, die Flucht in den Alkoholismus und Ausweglosigkeit die einzigen Themen wären, die „American Teenager“ thematisiert.

Und nun zurück zu „Perverts“: Im Gegensatz zu „Preacher’s Daughter“ ist „Perverts“ kein Album, sondern eine EP, wenn auch mit 89 Minuten Spielzeit eine sehr lange. 9 Stücke von sechseinhalb bis knapp über 15 Minuten Länge, kein Dream Pop mehr, auch kaum noch Ähnlichkeit mit den ja schon ebenfalls sehr düsteren Werken einer Chelsea Wolfe, stattdessen bekommen es die Hörenden mit (Ambient) Drone, Slowcore und Noise in weitesten Sinne zu tun. Das Titelstück „Perverts“ eröffnet die EP mit einem verzerrt/verkratzten Kirchenlied, das von der Nähe zu Gott handelt, durch das die Singenden aufrichtende Kreuz. Folgerichtig folgt dann erstmal Stille, bzw. ein Rauschen, dann eine verzerrte Stimme, die „Heaven has forsaken the masturbator“ proklamiert. Wow. Nach 12 Minuten endet das atonale und dennoch mitreißende Stück mit den Worten „It’s happening to everybody“.

Wie eine Befreiung wirkt das folgende „Punish“, auf dem Cain zum Klavier ähnlich singt wie auf ihren bisherigen Veröffentlichungen. Der Text handelt von Selbstzweifeln und Selbsthass und nach knapp vier Minuten bricht eine Stahlkugel aus Noise Rock durch die Wand der Klavierballade, Cains Stimme setzt sich durch gegen den sägenden Krach, aber am Ende liegt der Song in Trümmern und die Hörenden ergriffen mitten zwischen ihnen.

„Housofpsychoticwomn“ ist dann wieder eine ganz andere Hausnummer, mindestens drei- oder vierstellig. Der Text beginnt mit einem immer wieder von einer Männerstimme wiederholten „I love you“, derweil im Hintergrund vor einer leisen Synthesizermelodie auf- und abdröhnende Windgeräusche/Hundgebell/einfach nur elektronische Störgeräusche? zu hören sind. Dann geht es um etwas, das nicht mehr da ist und das die Sängerin sich zurückwünscht. Es handelt sich um das Gefühl, zu lieben und geliebt zu werden, und es hört sich an, als bekäme sie es nicht zurück. Am Ende ertönt ein elektrisches Brummgeräusch und die dreizehneinhalb Minuten sind trotz der Abwesenheit von Melodie und einem wirklich erkennbaren Gesang wundersamerweise wie im Flug vergangen.

Auf „Vacillator“ können sich die Hörenden dann ein wenig erholen, erstmal tut sich anderthalb Minuten lang fast nichts (Schnee schippen? Eis kratzen?), dann scheppert sich ein langsamer Schlagzeugrhythmus heraus, Synthesizer und dann die klare, tiefe Stimme Ethel Cains. Diese besingt eine Person, die sie ruhig beißen darf, sie würde sich nicht bewegen, dann thematisiert sie ihre Angst vor überfüllten Räumen und beschließt den Song mit der wiederholt vorgebrachten Forderung, dass die/der Besungene, so sie/er in die Stimmenbesitzerin verliebt sei, es doch für sich behalten solle.

„Onanist“ beginnt dann mit Störgeräuschen und einem elektronischen Klavier, das irgendwie dilettantisch, aber nicht unschön vor sich hinklimpert, der Text beginnt mit einem abgewandelten Zitat aus der Göttlichen Komödie (ich gebe zu: Da bin ich nicht selbst drauf gekommen, das habe ich nachgelesen) und endet mit „it feels so good“, wieder und wieder wiederholt. Cain singt hier sehr schön hoch, kurz vor dem Klirren, und irgendwann sägt eine sehr kratzig verzerrte Gitarre den Song in der Mitte auseinander. Das alles klingt schön und beruhigend, obwohl es aus lauter nicht schön und eher beunruhigend klingenden Versatzstücken montiert ist.

Danach kommt dann das Kernstück des Albums, das gut 15minütige „Pulldrone“: Der Beginn des Textes wird ohne Musik vorgetragen: Cain beschreibt insgesamt 12 Begriffe: Apathie (apathy), Störung (disruption), Neugier (curiosity), Anpassung (assimilation), Vergrößerung (aggrandisation), Beschreibung (delineation), Perversion (perversion), Abneigung (resentment), (Ab)Trennung (separation), Erniedrigung (degradation), Auslöschung (annihilation) und Verzweiflung (desolation). Kurz vor der Perversion (Begriff Nr. 7) ertönt eine Glocke, dann beginnt eine sägende Geige im Hintergrund zu spielen, immer denselben leiernden Ton, hinzu kommt ein ähnlich variantenreicher Synth. Cain murmelt den Text, die Stimme klingt dumpf, oder vielmehr gedämpft, der Tonfall resigniert. Die Geige spielt sich immer mehr in den Vordergrund, dieses Instrument ist, so wie es hier eingesetzt wird, prima für Drone geeignet. Die Erläuterungen der Begriffe bestehen mal aus wenigen Wörtern („apathy – I am what I am and I am nothing“, „degredation – nature chews on me“) und manchmal aus langen Bildern und Assoziationen („aggrandation – the pull, yes, the pull, send down your cordage of suffocation and let me in“, „desolation – therein lies sacred geometry of onanism, of ouroboros, of punishment, I am that I was I no longer am for I am nothing“). Mit der Geometrie der Onanie, der mythischen schwanzverzehrenden Schlange der Unendlichkeit Ouroboros und der Strafe werden dann die Thematik aus dem ersten Song und der Titel des fünften Songs anschaulich und eindrucksvoll fortgeführt. Bei der Geige frage ich mich inzwischen, wie lang der hier verwendete Bogen wohl sein mag, denn ich höre ihn niemals abgesetzt werden. Außer kurz vor Schluss, wo der Ton dann zerhackt und zerknirscht wird, um am Ende doch nochmal aufzuflammen (können Töne aufflammen?) und sich lauter werdend dem abrupten Ende des Songs zu nähern und dann krächzend und stotternd zu verstummen.

Nachdem die Geige anscheinend den vorherigen Song nicht überstanden hat, greift Cain auf „Etienne“ wieder zum Klavier, in aller gotischen Düsternis natürlich. Dazu gibt es Klänge, als verzichte die Pianistin auf die Tasten und greife die Töne direkt auf den Saiten ihres Instruments. Das Stück ist ein sehr getragenes Instrumental mit einem von einer Männerstimme gesprochenen Outro, das von der Geschichte eines Mannes handelt, der sich umbringen will, indem er durch schnelles Laufen einen Herzinfarkt provoziert. Er versucht es eine ganze Woche lang jeden Tag, ohne zu sterben, und am Ende fühlt er sich so gut, dass er sich nicht mehr umbringen will. Wenn ich jemals mit dem Laufen anfangen sollte, dann auf jeden Fall ermuntert durch Ethel Cain und nicht durch Laufpapst Ulrich Strunz, falls sich an den noch jemand erinnert.

Nach dem beinahe entspannenden Klavierintermezzo mit der herzerfrischenden Geschichte des überlebenden Lebensmüden geht es dann wieder mit schööön dissonantem Drone weiter: „Thatorchia“ (klingt für mich wie die naheliegende Symbiose aus Maggie Thatcher und Torture) beginnt mit einer verzerrten, schrägen hallenden und echoigen Gitarre, gejagt durch einen auf 11 aufgedrehten Röhrenverstärker, ab der Hälfte des Stücks mischen sich geisterhafte Stimmen in den Krach, die keinen Text singen, sondern anscheinend weder jauchzen noch frohlocken, sondern wehklagen. Abgesehen davon ist das Stück ein Instrumental, das lauter und lauter wird, intensiver und eindringlicher und viel zu schnell vorbei ist (nach siemenhalb Minuten).

Mit „Amber Waves“ beschließt ein wieder sehr langes Stück (11:32 Minuten) das Album, eingeleitet von einem wirklich sehr schönen, langsamen Klavier, dann kommt eine Gitarre hinzu und für Ethel-Cain-Verhältnisse recht heller Gesang. In sehr getragener Art und Weise singt Cain einen rätselhaften Text, irgendwo zwischen verzweifelter Hoffnung („I’ll be alright, I’ll be alright, I take the long way home, shaking the bottle and letting them roll ‘cause the devil I know is the devil I want“) und Vezweiflung („Is it not fun, uh, in the catatonia, maybe it’s true, you were nothing to me – I can’t feel anything“). Wie sie das singt, hört sich Cain für einen Moment mal wieder an wie die schwermütige Cousine der ohnehin schon hinreichend schwermütigen Lana del Rey. Ein schöner, wenn auch nicht leichter Ausklang eines unglaublichen Albums.

Trotz aller Düsternis, allen Krachs und aller Dissonanzen ist „Perverts“ ein schönes Album, nicht schön vom Inhalt (wenn auch erträglicher als das musikalisch zugänglichere „Preacher’s Daughter“), nicht schön zum Anhören, aber am Ende bleibt ein starker Eindruck von Schönheit zurück. Wahrscheinlich, weil alles passt. Ich könnte mir gut vorstellen, dass in diesem Jahr das Album des Jahres bereits in den ersten Tagen des Januar erschienen ist, denn ich kann mir nicht vorstellen, wie irgendjemand „Perverts“ an textlicher und musikalischer Tiefe, an Wirkung und an authentischer Gefühlsvermittlung noch übertreffen will. Seien wir also gespannt, was uns 2025 noch alles erwartet.