Gezeigt auf dem 38. Braunschweig International Film Festival
Von Guido Dörheide (24.11.2024)
Alle Handelnden in diesem Film sind irgendwie fertig und am Ende, mit Ausnahme von Prince Charles, einem weißen Kaninchen, dessen wirklicher Name, wie dem Abspann zu entnehmen ist, Honk lautet.
Blindgänger handelt vom Arbeitsalltag eines Teams des Hamburger Kampfmittelräumdienstes (KRD) auf der einen und von den Schicksalen und Problemen aller von der bevorstehenden Entschärfung einer englischen Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg Betroffenen auf der anderen Seite sowie von den persönlichen Verflechtungen zwischen allen im Film vorkommenden Personen, die sich durch die obwaltenden Umstände ergeben.
Der erfahrene und abgebrühte Otto Bismarck (hihi, jaja, ohne „von“, wunderbar unabgebrüht und dem Zerbrechen nahe gespielt von Bernhard Schütz) ist als Einsatzleiter vorgesehen, erhält aber eine tragische Verdachtsdiagnose (Prostatakrebs) und meldet sich krank. Er streift durch die Stadt und bleibt bei Viktor Knigge (herrlich: der aus den Humorkrimiserien „Kommissar Rex“ und „Stockinger“ noch in guter Erinnerung gebliebene Karl Markovics) in einem heruntergekommenen Reisebüro hängen und knuddelt fortan den besagten Prince Charles, den Viktor im Zuge der Evakuierung aus der Wohnung seiner dementen Nachbarin Margit Petersen (Barbara Nüsse) in Sicherheit gebracht hat, da sich Margit der Evakuierung durch Verstecken im Kleiderschrank entzogen hat. Ebenfalls versteckt hat sich Junis, ein junger Geflüchteter, der Unterschlupf bei Viktor gefunden hat und aufgrund der Evakuierung seine Auslieferung fürchtet. Junis und Margit vertreiben sich die Zeit im Versteck mit dem Anprobieren von Viktors Frauenperücken und verstehen sich trotz ihrer Sprachbarriere blendend.
Margits Tochter Lane (Anne Ratte-Polle in der Hauptrolle des Films) ist, so wird es gleich zu Anfang des Films deutlich, psychisch schwer angeschlagen und läuft Gefahr, durch die neue Feuerwehrpsychologin Ava Shabani (Haley Louise Jones) vollkommen zu Recht zumindest vorübergehend aus ihrem Job beim Kampfmittelräumdienst entfernt zu werden. Doch wie bereits im Leben kommt es auch im Film immer anders: Als Otto sich am Tag der geplanten Entschärfung und nach der Verdachtsdiagnose kurzfristig arbeitsunfähig meldet, überträgt die Chefin des KRD, Frau Reiter (Thelma Buabeng), kurzerhand Lane die Einsatzleitung. Eigentlich bereits schon nicht in der Lage, diesen Job wahrzunehmen, versucht sie nebenbei noch, die verlorengegangene Mutter aufzuspüren, wodurch sie den Einsatz um ein Haar aufs Spiel setzt, kann aber mit Hilfe der Psychologin – die ihrerseits komplett am Rande des Nervenzusammenbruchs steht, von ihrem Vater, anscheinend ebenfalls Psychologe oder Psychiater, in der Einsatzzentrale wegen Lappalien genervt und mit guten fachlichen Ratschlägen versorgt wird, bis Frau Reiter sie kurzerhand nach Hause schickt – den Job zuende führen. O haue ha, da wird es am Ende bei der Hamburger Feuerwehr wohl Disziplinarverfahren wohl nur so gehagelt haben, trotz glimpflichen Ausgangs der Mission.
Soviel zur Handlung, alles andere wie z.B. den Seitensprung von Ottos Frau Hanne (Claudia Michelsen, wie immer zwischen eiskalt eklig und doch irgendwie am Ende nicht unsympathisch spielend) sollten sich die Lesenden selber ansehen, denn sehenswert ist das alles sehr und ab nächstem Frühjahr regulär in deutschen Lichtspielhäusern zu sehen.
„Blindgänger“ ist ganz klar ein typischer Episodenfilm, der nacheinander alle Charaktere mit ihren Ecken, Kanten, Problemen und Psychosen einführt, die Zuschauenden mit ihnen bekannt macht und am Ende sehr viel Sympathien für sie hervorruft. Die Einzelschicksale werden nach und nach ineinander verwoben, und wenn es nicht Liebe ist, so ist es die Bombe, die uns zusammenbringen wird, wie Morrissey bereits 1987 im The-Smiths-Klassiker „Ask“ zum Besten gab.
Das alles geht zu Herzen, auch die zu Anfang wirklich am beklopptesten agierenden Charaktere konnte ich im Laufe des Films mehr und mehr verstehen, und der Spannungsbogen angesichts dessen, was passieren kann, wenn der Blindgänger nicht unschädlich gemacht wird, funktioniert super. Daneben erfährt man viel über den Arbeitsalltag des Kampfmittelräumdienstes, hofft, dass dessen Mitglieder im wirklichen Leben nicht gar so viele persönliche Probleme mit sich herumtragen, die einen klaren Kopf bei der Arbeitsverrichtung verhindern, und denkt ein ums andere Mal, dass in der Realität doch bestimmt alles viel unaufgeregter abläuft beim KRD.
Was laut Regisseurin Kerstin Polte, die im Nachgang der Vorführung auf dem Braunschweigischen Filmfestival aus dem Nähkästchen plauderte und Fragen aus dem Publikum beantwortete, begleitet von der gutgelaunten und mitreißend lustige Anekdoten über die Dreharbeiten erzählenden Hauptdarstellerin Anne Ratte-Polle, nicht der Fall ist. Bei der jahrelangen Arbeit an dem Film hat das Team eng mit dem Hamburger KRD zusammengearbeitet und Polte versichert, dass es in diesem Job normal sei, sich morgens von der Familie in dem Wissen zu verabschieden, dass man nicht mehr zurückkommen könnte. Als Beispiel führt sie den Göttinger Unfall aus dem Jahr 2010 an, bei dem drei KRD-Mitarbeiter:innen ums Leben kamen; dieser Fall wird auch im Film erwähnt.
Auch über die Technik der zu entschärfenden Bomben und die von ihnen – ca. 80 Jahre nach Kriegsende – immer noch ausgehenden unberechenbaren Gefahren bekommt man eine Menge gelernt. So ist „Blindgänger“ ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswerter Film: Er ist spannend, gut erzählt, in beklemmenden Bildern festgehalten und hervorragend besetzt. Wie schön, dass es das Braunschweig International Film Festival gibt, wo man solche Filme nicht nur bereits zu sehen bekommt, bevor sie offiziell im Kino laufen, sondern auch Regisseur:innen und Darsteller:innen hautnah erleben kann.