Von Matthias Bosenick (07.11.2024)
Emotionen sind hier nicht plakativ sichtbar, aber Thema: Die todkranke Martha bürdet der entfernten Freundin Ingrid auf, sie bei ihrem Freitod zu begleiten – an sich die Basis für haufenweise Wehklagen, doch Pedro Almodóvar inszeniert „The Room Next Door“, die Verfilmung des Romans „Was fehlt dir? (What Are You Going Through?)“ von Sigrid Nunez, als Informationsaustausch auf intellektueller Ebene. Das ist wohltuend, weil man sich weniger manipuliert fühlt. Der Regisseur geht zudem stante pede in medias res und fesselt trotz des zumeist theoretischen Aufbaus über die gesamte Spielzeit die Aufmerksamkeit der Betrachtenden. Außerdem begeistern, wie beim früheren Enfant Terrible gewohnt, die Bilder – und Tilda Swinton ist der nächste Pluspunkt.
Mit gemächlichem Schritt wandelt Almodóvar durch dieses Kammerspiel, von Anfang an, und wechselt dabei wie nebenbei die Erzählweise. Autorin Ingrid (Julianne Moore) erfährt bei einer Signierstunde von einer gemeinsamen Bekannten, dass Journalistin Martha (Tilda Swinton) mit Krebsdiagnose im Krankenhaus liegt. Ingrid besucht Martha – und obschon sie sich jahrelang nicht sahen, tauchen sie aus dem Stand in tiefste Tiefen ab; Martha berichtet vom zerrütteten Verhältnis zu ihrer Tochter Michelle. Jeder Satz birgt mehr Geschichte als manche komplette TV-Serie, die Dialoge sind auf den Punkt, es geht Schritt um Schritt in der Geschichte voran, die sich zunächst im Kopf der betrachtenden abbildet, weil man nur den beiden Frauen aus nächster Nähe dabei zusieht, wie sie sich auf den Stand der Dinge bringen, biografisch und emotional. Als man sich gerade an diese ungewöhnliche cineastische Erzählweise eingelassen hat, baut Almodóvar plötzlich doch noch Rückblenden ein, visualisiert mithin die vormals rein verbalen Berichte. Insbesondere das am helllichten Tag im US-Nirgendwo brennende Haus bringt temporär Surrealismus in den Film.
Sobald man auf Stand ist, dringt das Titelthema in den Film ein: Martha, zwischen zwei Therapien aus dem Krankenhaus entlassen, möchte mithilfe einer im Darknet erworbenen Pille dem qualvollen Krebstod entgehen, und wissend, dass dies in den USA illegal ist, bittet sie Ingrid quasi um Mittäterschaft, indem sie sich in den titelgebenden Nachbarraum setzen soll, sobald Martha die bittere Pille schluckt. Obwohl Ingrids neues Buch von der Angst vor dem Tod handelt, sie für so etwas also nicht zu haben sein sollte, lässt sie sich darauf ein, und beide mieten sich irgendwo im Wald in ein Luxushaus ein, das so asymmetrisch designt ist, wie Almodóvar seine wunderbaren Bilder aufbaut. Die Frauen begegnen einander und dem Tod.
Die Zeit in dem Haus nutzt der Regisseur, um thematische Seitenarme einzubauen; Ingrid wendet sich an Damian (John Torturro), Ex-Lover beider Frauen, und begibt sich in einem Fitnessstudio in die Obhut eines Trainers, und in beiden Begegnungen sind gegenwärtige gesellschaftliche und politische Schräglagen Thema, so wie der gesamte Film ein Plädoyer für die aktive Sterbehilfe respektive den Freitod aus gesundheitlichen Gründen ist. Almodóvars Abscheu gegen religiöse Fanatiker wäre ohne die an sich überflüssige Sequenz mit dem Polizeiverhör kaum unterzubringen gewesen. Zuletzt begegnet Ingrid Marthas Tochter Michelle (ebenfalls Tilda Swinton) in dem Haus, beide finden Frieden.
Der Schmerz ist hier nur eine Information; in lediglich einer Szene bricht er aus Martha heraus, und kurioserweise wirkt er nur da unglaubwürdig. „The Room Next Door“ ist ein Kopffilm, und das ist gut so, weil man sich nicht durch vordergründige Schablonen manipuliert fühlt. Die Personen leben und sprechen in transparenter Klarheit, sie sind sich ihrer selbst bewusst, allen voran Martha. In den Gesprächen mit Ingrid offenbart sich jedoch, dass jene der Kranken intellektuell nicht gewachsen ist. Sie weicht aus; sei es aus Angst vor dem Thema oder aus dem Unvermögen, Martha inhaltlich und somit emotional zu folgen. Es fällt dann schwer, sie sympathisch zu finden; über die Spielzeit reift sie jedoch an der Aufgabe und ist dann sogar Vorbild für andere. Für diese ungleiche Zusammenkunft der Frauen findet die Geschichte eine Erklärung: Ingrid war nicht Marthas erste Wahl, drei deutlich engere Freundinnen hatten das Ansinnen zuvor abgelehnt. Auch, weil sogar die Mittäterschaft bei dieser Art Freitod in den USA strafbar ist, wogegen Almodóvar hiermit protestiert.
Alles ist Kopf, und doch ist man permanent gefesselt, das ist die Kunst von Almodóvar, dem vormaligen Enfant Terrible, das im Laufe der Jahrzehnte fürs Terriblesein lediglich die Parameter verschob: Hier geschieht es eben auf inhaltlicher Ebene, in der Haltung, nicht in der schrägen und schrillen Erzählweise. Dafür behält er andere traditionelle Aspekte bei: Die Bilder sind wunderschön komponiert, die Farben der Kleidung gewohnt monochrom; Edward Hopper ist ein zitiertes Vorbild. Und weil er seinem Komponisten-Kumpel einen Job zusichern wollte, ist auch etwas mehr Musik im Film als nötig. Neu ist im Almodóvar-Universum, dass dieser Film erstmals nicht auf Spanisch, sondern auf Englisch gedreht ist, was als Information für das deutsche Publikum ein Schlag ins Gesicht ist, weil man hierzulande ja alles synchronisiert vorgesetzt bekommt. Das gipfelt in der Beklopptheit, dass man Martha und Ingrid beim DVD-Gucken beobachtet und den geguckten Film („The Dead“ von John Huston) im Original belässt, die eine Szene mitsprechende Swinton aber parallel synchronisiert. Nebenbei: Swinton beim Spielen zuzugucken, ist ein Fest. Wann kommt das Bowie-Biopic mit ihr?