Von Guido Dörheide (05.11.2024)
Meine Mutter würde sagen, Willie Nelson sein ein „Unikum“. 91 Jahre ist er mittlerweile alt, in zahlreichen Musikstilen wie Folk, Country, Outlaw Country, Jazz etc. zuhause und wird nicht müde, immer neue Alben auf den Markt zu schmeißen. „Last Leaf On The Tree“ ist heuer schon sein zweites nach „The Border“, und erst im vergangenen Jahr hat er mit „Bluegrass“ ein tolles Album mit Coverversionen im Bluegrass-Stil vorgelegt.
Vorwiegend Coverversionen enthält auch „Last Leaf On The Tree“, mit „The Ghost“ ist aber auch eine Eigenkomposition vorhanden, außerdem mit „Color Of Sound“ eine Kollaboration mit seinem Sohn Micah Nelson, der außerdem „Wheels“ geschrieben hat.
Beginnen tut das Album mit „Last Leaf“ vom 2011er Tom-Waits-Album „Bad As Me“. Nelsons charakteristisch-näselnder Stimme hört man die 91 Lebensjahre an, und sie stehen ihr gut zu Gesicht. Dünner und brüchiger als beispielsweise noch zu Zeiten des „Red Headed Stranger“, der ja nun auch schon bald 50 Jahre zurückliegt, aber immer noch irgendwie kraftvoll und vor allem eben unverkennbar. Mit „House Where Nobody Lives“ ist noch ein zweiter Tom-Waits-Song vertreten, vom 1999er Album „Mule Variations“. Außerdem covert sich Nelson durch Songs von Beck, Nina Simone, Keith Richards, Neil Young (ebenfalls zwei Stück, „Are You Ready For The Country“ und „Broken Arrow“ von Buffalo Springfield), The Flaming Lips und Warren Zevon. Dessen „Keep Me In Your Heart“ aus dem 2003er Album „The Wind“ geht besonders zu Herzen. Mit den Worten „Keep me in your heart for a while“ verabschiedete sich Zevon von seinen Fans und der Welt, das Album erschien wenige Tage vor Zevons Tod. Diese Zeilen von einem Künstler in Nelsons Alter zu hören, verursacht eine Gänsehaut, und ich hoffe, dass wir noch zahlreiche weitere Nelson-Alben zu dessen Lebzeiten erleben dürfen.
„Keep Me In Your Heart“ wird von Nelson sehr ergreifend interpretiert, und dafür braucht er nichts anderes zu tun, als das Lied einfach mit seiner Stimme leicht vernuschelt zu singen, als wäre es von ihm. Die wunderbare Musik mit sanft angeschlagener Akustikgitarre (Nelsons legendäre Gitarre „Trigger“, die er seit 1969 spielt) samt Nelson-typischem Solo, Mundharmonika und Geige tut ihr Übriges dazu.
Überhaupt, die Musik: Wie immer gelingt es Nelson und seinen Musikern (neben besagtem Sohn Micah sind das unter anderem John Densmore von den Doors, der auf vier Songs die Percussion übernommen hat, Mickey Raphael, der auf fast allen Stücken mit der Mundharmonika von der Partie ist, Daniel Lanois an der Pedal Steel auf „The Ghost“ und Nikita Sorokin, der auf vier Songs die Violine bzw. – auf „Are You Ready For The Country“ – die Fiddle spielt), dem vorhandenen Songmaterial seinen Stempel aufzudrücken, dass man denkt, alles sei von ihm. So war es schon in den frühen 80ern mit „Always On My Mind“, von dem ich immer dachte, Elvis hätte es von ihm gecovert, und so wird es vermutlich immer sein. Stilistisch bewegt sich das Album zwischen Folk und Country, also den Stilrichtungen, für die Nelson am meisten geliebt wird, und es ist ein sehr ruhiges, nachdenklich klingendes Album. Perfekt für die dunkleren Jahreszeiten also. Wobei ich mir auch eine von Willie-Nelson-Musik untermalte fröhliche Grillparty vorstellen könnte. À propos fröhlich – Nelson hat wahrlich den Schalk im Nacken zu sitzen: Am Ende des letzten Stücks „The Ghost“ ertönen eigentümliche elektronische Geräusche und dann kommt noch ein Hidden Track, dessen Text mich dermaßen in Erstaunen versetzt hat, dass ich ihn hier gerne abgedruckt sehen möchte:
„If you’re looking for troublе, you just found it
Trouble was my middle name
You don’t have to look any further
I’m broken, unhappy, and totally insane
So if you still think you’re tough, come on, Sonny
I’ll even let you have the first lick
But I warn you, my friend, you won’t like the end
So don’t fuck with the mentally sick
Don’t fuck with the mentally sick“
Am Ende hört man Nelson lachen, dann ist das Album aus. Wahnsinn.