Von Matthias Bosenick (05.11.2024)
Hier ist drin, was draufsteht – und doch wieder nicht: Das Stichwort Synthiepop, das der Wolfenbütteler Jens Nagel unter seinem neuen Parallel-Alias SynthBox heranzieht, weist in eine verfälschte Richtung, denn sein Debüt „Still Alive“ ist mitnichten ein reines Retro-Ding, das den opulenten Sound der Achtziger-Synthiebands kopiert. Nagel hat eine eigene Handschrift, sowohl in der minimalistischen Musik als auch im Gesang, und zeigt sich zudem experimentierfreudig im Sinne seiner Songs. Zwar legt Nagel seine neun neuen Songs chillig aus, lässt zusätzlich aber eine kopfnickende bis clubtaugliche Tanzbarkeit zu. Ein wunderbarer Begleiter zum Hauptprojekt REAL des früheren Phase-V-Keyboarders!
So geht das: Seine Einflüsse und Favoriten benennen, sich möglicherweise deren Technik aneignen, aber etwas komplett Eigenes daraus generieren, schließlich gibt’s die Vorbilder ja bereits. Genau so verfährt Nagel auf diesem Debüt, listet seine Synthie-Helden der Achtziger auf und klingt dann gar nicht nach ihnen. So mancher Vergleich drängt sich zwar auf, aber zu ganz anderen Urhebern und nur selten und dann auch nur von ferne. Der Opener „The Light“ besteht aus einem minimalistischen, aber nervösen Synthie-Pluckern mit langsamen trockenen Beats, zu denen Nagel murmelnd sprechsingt und bald mit seiner ausdrucksstarken Stimme singend begleitet. Hier zieht Nagel The Klinik als Inspiration heran, Dirk Ivens wäre da zwar sicherlich geehrt, würde sich aber nicht zwingend wiederfinden.
Etwas flächiger gerät „Deep Side Of The Moon“, das ebenso wenig nach Pink Floyd klingt. Allmählich wird der Track tanzbarer, garniert mit Sprechgesang. Den behält Nagel auch in „Broken Higway“ bei, das mit Streichersamples beginnt und erst spät einen Trommelschlag dazubekommt. In den eher chilligen Phasen könnte man sich den Text auch von Anne Clarke gesprochen vorstellen. Danach wird es „Dancy“, und dieser Titel passt: Synthieeffekte und Shaker weisen den Weg auf die Tanzfläche, ein trockener technoider Beat übernimmt das Diktat, die Stimme verstummt dieses Mal.
Die spanische Akustik-Gitarre im Titeltrack klingt nach der in „Domino Dancing“ von den Pet Shop Boys, die Nagel gar nicht als Einfluss nennt. Auch der Song dazu erinnert nicht weiter an jenes Duo. Nagel wispert und singt im Wechsel, die Synthie-Musik bleibt reduziert, der Beat bekommt einen Snare-Sound an die Seite gestellt, ein hektisch pulsierender Bass unterliegt allem. Wie ein modernisierter Achtziger-Popsong wirkt „A Better Place“, eigentlich sogar noch mehr wie die etwas poppigeren, trotzdem dunklen Sachen aus der EBM-Welt der Achtziger, etwas Sheffield, etwas Belgien schwingt mit, umgesetzt aber mit der Technik zum Zeitpunkt des Wechsels von den Achtzigern in die Neunziger, mit mehr Kälte und Trockenheit. Hier lässt sich ein einziges Mal tatsächlich ein genannter Einfluss ausmachen: Die zweite Hälfte könnte von Depeche Mode aus der Zeit von „Violator“ sein.
Mit „C. Future“ verbeugt sich Nagel vor der Musik, die Christian Bruhn für die Anime-Serie „Captain Future“ produzierte, und wie es sich gehört, klingt der Song kein Bisschen danach, sondern greift das Spacige auf, lässt die Synthies dudeln, die spanische Gitarre erfährt einen neuerlichen Einsatz, Nagel wispert dazu, während er in der Mitte alle Gerätschaften herunterfährt, um neuerlich Schwung zu holen, um die Fliehkraft zu überwinden und tanzbar synthetisch ins All abzuheben – ohne Herrn Bruhn zu kopieren. Für die letzten beiden Tracks bleibt Nagel tanzbar, technoid, clubby. „The Deputy“ leitet er mit einem beim Italowestern geborgten Pfeifen ein und aus, während die Musik dazu eine Art Acid House mit Beats von Kraftwerk aus der Zeit von „The Mix“ ausformuliert, in die gelegentlich ein rhythmisches Quaken einfällt, während Nagel seine Stimme erhebt. „The Fill“ setzt das tanzbare Tempo fort, der minimale Track ist spacig und clubby, Nagel fügt atmosphärische Trance-Flächen und Großraumdisco-Fanfaren ein.
In diesem trockenen, teils abgedunkelten Minimalismus und der Nichteinhaltung von Grenzen weicht Nagel stark von dem ab, was man sich unter Synthiepop vorstellt, und da er die Texte hier auf Englisch verfasst, unterscheidet er sich, zusätzlich zum Konzept, auch von seinem Haupt-Projekt REAL. Somit ist „Still Alive“ keine retrofixierte Zeitreise, sondern eine moderne Referenz an die Electro-Zeit vor 30 bis 45 Jahren. Das Coverfoto übrigens steuerte Michael Zemke bei, und es empfiehlt sich, dessen Instagram-Profil zu folgen.