Von Matthias Bosenick (07.10.2024)
Unveröffentlichte Lyrik aus den zurückliegenden 20 Jahren, ergänzt um Grafiken von Anne Zückert, kredenzt der Verleger, Labelbetreiber, DJ und Dichter René Seim aus Dresden in seinem neuen Buch mit dem kopfverdrehenden Titel „Eine Peitsche aus Sand“. Obschon sein Humor abermals ein unterschwelliger bis offenbarer Begleiter ist, erwecken Seims Gedichte dieses Mal weiträumig den Eindruck von Melancholie und Einsamkeit, denen der Dichtende jedoch zumeist entwaffnend begegnet. Er übertüncht die dunkle Grundierung farbenfroh und gibt den Lesenden mit ähnlicher Gemütslage damit Werkzeuge an die Hand, mit denen sie ähnlich verfahren können. Alle anderen erfreuen sich an indirekten Bildern, verknappter Komplexität und sprachlichen Spielereien.
Das ist die Kunst des Lyrikers Seim: schwerwiegende Sachverhalte in drei, vier, acht Zeilen auf den Punkt zu bringen, zum Teil sogar, ohne sie zu benennen, aber trotzdem eindeutig erkennbar. „Frieden“ etwa, darin heißt es: „Träge in der Sonne / ruht mein Köpfchen tief im Gras. / In solch wohler Wonne / vermiss ich nicht, den ich vergaß.“ Man muss zweimal lesen, dreimal schlucken und dann zustimmend nicken: Ja, ein vertrautes Sujet, inklusive Handhabung; Verlust vertreiben mit Positivem. So verfährt der Ich-Dichter in diesem Band häufig, er schildert dunkle Situationen, denen er mit hellen Gegenmitteln begegnet. Ein Stillstand wie in „Hinter der Gardine zum Balkon“, in dem sich zum Ende hin lediglich ein Seufzer in den Teer stürzt, ist hier eher eine Seltenheit, aber dennoch enthalten. Zumeist überwiegt indes die Ermunterung, für die man dann nur dankbar sein kann.
Lang kann er auch, der Dichter, betrachtet die genannten Lebenslagen und andere Alltäglichkeiten etwas ausführlicher, in Spezialitäten wie „Mir fliehen die Tage“ und „‚Küss mich‘“ zusätzlich beinahe grafisch strukturiert; beides überdies abermals Beispiele für Gedichte, die im Dunklen enden, ohne die ansonsten positivierende Kehrtwende. Oder den Humor, der bei Seim sowohl vermittels Inhalt als auch durch unerwartete Wendung eintritt. Wenn er etwa seinen ausgelebten Freiheitsdrang in „Nackt, bei Gegenwind“ mit dem Thema Versicherung und Risiko abschließt. Oder indem er in „Irgendjemand“ eine toxische Situation indirekt ausgedrückt mit Gewalt löst, da fühlt man sich mit ihm befreit.
Auch absurd und unentschlüsselbar kann Seim. Das kurze „Herrlich gemütlich, leise“, mit etwas Lokalkolorit nebenbei, muss man mehrmals lesen, um den Sachverhalt zu erfassen. „Fliederhimmel“ ist dergestalt assoziativ, dass man es eher nicht erfassen kann. Ein Bild generiert es dennoch bei der Lektüre, und es ist in diesem Buch eine Ausnahme, zu den anderen Gedichten findet man sehr wohl einen Zugang.
Quasi kongenial, um dieses Wort auch mal irgendwo unterzubringen, stellt Seim seiner Lyrik Grafiken seiner Partnerin Anne Zückert zur Seite. Die abstrakteren Werke korrespondieren mit den dunkleren Texten, es überwiegen aber die farbenfrohen, flächigen und figürlichen Arbeiten, die den Geist der Mehrheit der Gedichte wiederspiegeln.
In seinem Windlustverlag veröffentlichte Seim überdies vor fast fünf Jahren die Anthologie „Ich liebe Musik, Vol. 2“, an der dankenswerterweise auch die KrautNick-Autoren Guido Dörheide und Onkel Rosebud sowie der Rezensent dieses Textes beteiligt sind. Auch Seims weitere Gedichtbände sowie die Alben seines Labels Head Perfume Records seien hier empfohlen, erhältlich auch in seinem Onlineshop Headlust.