Von Guido Dörheide (17.09.2024)
Kurz vor der US-Präsidentschaftswahl fand ich es an der Zeit, mir ein Buch zuzulegen, das sich mit den Gefahren, die von eine:r der beiden Bewerber:innen ausgehen, beschäftigt. Empfohlen hat es mir die Liebste, mit dem Hinweis, dass es leider nur im englischen Original verfügbar sei, Steven Hassan sei aber der führende US-amerikanische Sektenpsychologe, also quasi der Dieter Rohmann der Vereinigten Staaten. Ich kann gleich vorwegnehmen: Das Lesen eines englischsprachigen Fachbuchs hätte ich mir anstrengender vorgestellt. Hassan schreibt unterhaltsam und lockert seine Analyse mit bildhaften Beschreibungen und Anekdoten auf. Das Buch ist bereits 2019, also noch während Trumps hoffentlich einziger Präsidentschaft, erschienen, ist aber inhaltlich aktueller denn je.
Im Nachwort schreibt Hassan, dass er das Buch irgendwann ja einmal fertigstellen musste, und dass noch zahlreiche weitere Enthüllungen über Donald Trump ans Tageslicht kommen werden, ehe das Buch in den Läden steht. Und so war es ja auch. Und auch Trumps Running Mate J.D. Vance wird mit seinem Buch „Hillbilly Elegy“ erwähnt, ohne dass sich damals bereits abzeichnete, welche Rolle dem elegischen Hillbilly dereinst von seinem Noch-Mentor Donald Trump zugedacht werden würde.
Aber starten wir mit dem Beginn: Steven Hassan war in den frühen 70er Jahren einmal Mitglied der Vereinigungskirche (auch bekannt als die Moon-Sekte, die von Südkorea aus weltweit Einfluss bis in höchste politische Kreise ausübt; der Mord am ehemaligen japanischen Premierminister Shinzo Abe, der sich sehr für die Moon-Sekte einsetzte, ist in diesem Zusammenhang noch in Erinnerung), und sogar ein ziemlich einflussreiches. Nachdem er, ursprünglich jüdischen Glaubens, mit Hilfe seiner Familie erkannte, wie anfällig auch intelligente und aufgeklärte Menschen gegenüber Manipulation und Gedankenkontrolle zu sein scheinen und sich aus den Fängen der Moonies befreit hatte, verschrieb er sich als Psychologe der Aufgabe, Menschen aus Bewusstseinskontrolle ausübenden religiösen und anderen Organisationen, die unzulässige Beeinflussung ihrer Mitglieder ausüben, herauszuhelfen. Er hat das BITE-Modell zur Beurteilung des Gefahrenpotentials von Organisationen und Gruppen entwickelt, das er im vorliegenden Buch auf die Machtstrategien Donald Trumps anwendet. BITE steht für „Behaviour, Information, Thought and Emotional Control“, es gilt also, zu untersuchen, inwiefern die Organisation oder Gruppe das Verhalten, den Zugang zu Informationen, die Gedanken und das Gefühlsleben ihrer Mitglieder (unzulässig) beeinflusst.
Im ersten Abschnitt des Buchs definiert Hassan, wie ein Kult definiert ist. Der englische Begriff „Cult“ bedeutet nicht nur Kult, sondern auch Sekte; ich finde in diesem Zusammenhang den Begriff „Kult“ jedoch besser, da er nicht in erster Linie an religiöse Sekten denken lässt, also weiter gefasst ist. „Die Trump-Bewegung ist ein Kult“ klingt für mich passender, weil neutraler und weniger religionsfokussiert als „Die Trump-Bewegung ist eine Sekte“. Die weniger mit dem Thema Befassten denken dann auch vielleicht eher an irgendwelche gelbgekleideten Personen, die in der Fußgängerzone tanzen und singen. Obwohl, der Trump…, gut lassen wir das. Hassan erklärt die Mechanismen der Gehirnwäsche und der Gedankenkontrolle, das BITE-Modell, und erläutert, dass es fünf verschiedene Arten von Kulten gibt, nämlich religiöse, politische, psychotherapeutisch-erzieherische, kommerzielle und Persönlichkeitskulte.
Im zweiten Abschnitt beschäftigt sich Hassan damit, wie ein Kultführer zu einem solchen wird. Dabei erfahren die Lesenden viel über die Geschichte Donald Trumps und seiner Familie und wie sein Vater dem kleinen Donald immer und immer wieder die Zeilen „You are a killer… you are a king… you are a killer… you are a king“ ins Bewusstsein hämmerte und damit den Grundstein zu Donalds doch sehr speziellem Selbstbewusstsein legte. Es wird weiter beschrieben, wer Trump sonst noch alles beeinflusste, und am Ende entsteht das Bild eines Mannes, der seine Getreuen solange mit Love Bombing zuschüttet, bis sie irgendwann auch nur die allerkleinste Kritik an ihm formulieren und ihm nicht mehr die geforderte bedingungslose Bewunderung angedeihen lassen. Dann lässt Trump auch ehemals engste Vertraute komplett fallen und schaltet um auf Vergeltung, Rufmord und letzten Endes vollständige Vernichtung. Interessant ist auch, zu erfahren, wie Trump nach anfänglichen geschäftlichen Erfolgen mit Hotels und Spielcasinos dann von einer Pleite in die andere schlitterte, nirgends außer in der Sowjetunion noch kreditwürdig war und sich dann als Gastgeber von 14 Staffeln der Fernsehshow „The Apprentice“ als mega-erfolgreicher Geschäftsmann in Szene setzen konnte, dem nachzueifern es gilt und der schließlich zu einer Marke geworden ist.
Im dritten Abschnitt entwickelt Hassan das Profil eines Kultführers: Es besteht unter anderem aus malignem Narzissmus, übertriebener Darstellung der eigenen Fähigkeiten und herausragenden Merkmale, Machtphantasien, dem Streben nach übertriebener Bewunderung durch andere, der Abwesenheit von Empathie, Neid als wichtigem Antriebsfaktor, unsozialem Verhalten, pathologischem Lügen, dem Ausbeuten von Anhängern, Sadismus und Paranoia. Wie gesagt – unter anderem. Professionelle Kultführer wie Sun Myung Moon, Jim Jones hatten noch viel mehr auf dem Kasten, und wie passt Trump da hinein? Nun, ganz hervorragend. Und bei diesem Übermaß an schlechten Eigenschaften mag man sich fragen „Was zum Teufel macht solche Unmenschen derart anziehend, man muss doch bekloppt/hirnamputiert [bitte Beschimpfung Ihrer Wahl einsetzen] sein, um so jemanden zu feiern und alles zu tun, was er sagt.“ Nein, so einfach ist es nicht, und auch das erklärt Hassan in seinem Buch ganz hervorragend: Vor dem Hintergrund seines eigenen Sich-Komplett-Vereinnahmen-Lassens von der Moon-Sekte ist er weit davon entfernt, Kultanhänger als bekloppt und nicht ganz zur Selbststeuerung fähig einzuordnen, sondern er bringt seinen Lesern behutsam bei, wie Manipulation funktioniert und wie anfällig der Mensch dafür ist und dass es daher alles andere als angemessen oder hilfreich ist, negativ über Kultanhänger zu urteilen.
In Abschnitt 4 beschreibt er, wie anfällig die USA für Manipulation sind und warum Trumps Strategien und Vorgehensweisen dort auf sehr fruchtbaren Boden fielen und wie die GOP (Grand ole Party, also die Republikaner) ausgerechnet jemandem blinde Gefolgschaft leistete, der von allem, was er predigte, immer das krasse Gegenteil praktiziert. Bereits nach dem zweiten Weltkrieg experimentierte die CIA mit Techniken der Bewusstseinskontrolle, richtete damit, wie es sich für einen anständigen Geheimdienst gehört, bei den Probanden große Schäden an, vernichtete sämtliche Dokumentation über diese Experimente und behauptete dann, sie hätten alle zu nichts geführt. Anschließend unterstützte die US-Regierung eine Reihe von wegweisenden Experimenten, die die Funktionsweise und Effektivität von Bewusstseinskontrolle offenlegten, nämlich das Konformitätsexperiment von Asch, das Milgram-Experiment und das Stanford Prison Experiment. Alle drei Experimente sind im Internet gut erläutert, so dass ich hier jetzt nicht auf die Inhalte eingehe, sondern mir eine persönliche Anmerkung gestatte: Alle drei Experimente, die zeigen, wie leicht sich Menschen durch eine andersdenkende Mehrheit oder Autoritäten manipulieren lassen, haben ihre teils erschreckenden Ergebnisse nicht deshalb geliefert, weil sie typischerweise nur mit Amerikanern funktionieren. Während der beiden Diktaturen in Deutschland wurden ebenfalls tausende zunächst durchschnittliche Bürger dahingehend manipuliert, ihre Mitbürger zu bespitzeln, denunzieren und an Folter und Mord teilzunehmen, immer mit der Begründung, ja nur auf Befehl irgendwelcher Autoritäten gehandelt zu haben. Ob es dabei spezifisch deutsch ist, nicht sagen zu können, „Ich wurde manipuliert und habe an Verbrechen teilgenommen“, sondern sich auf ein „Ich habe nur Befehle befolgt und deshalb keine Verbrechen begangen“, vermag ich nicht zu beurteilen und ist letztendlich für die Beurteilung der Experimente auch nicht von Belang: Menschen wider besseren Wissens zum Anschluss an eine Mehrheitsmeinung zu bringen oder sie durch mehr oder weniger sanften Druck einer Autorität zu Folter und anderen Verbrechen zu bewegen, funktioniert auf beiden Seiten des Atlantiks.
Hassan führt noch weitere sehr interessante psychologische Untersuchungen an und erläutert dann Methoden der Gehirnwäsche (unfreezing, changing und refreezing), geht detaillierter auf sein BITE-Modell ein und schlägt dann den Bogen zur amerikanischen Realität, indem er erläutert, wie Trump die Kontrolle nicht nur über eine kleine Gruppe (was man beim Begriff „Kult“ schnell denken könnte), sondern über Millionen von Amerikanerinnen und Amerikanern erlangen konnte.
Abschnitt 5 beschäftigt sich dann mit der speziellen Überzeugungskraft Donald Trumps. Es geht um Hypnose, Neuro-Linguistische Programmierung (NLP), Meditation und Hypnose. Können Sie, liebe Lesende, sich vorstellen, von jemandem wie Donald Trump in Hypnose versetzt zu werden? Nun, nachdem sie Steven Hassans Ausführungen dazu gelesen haben, können Sie das. Hier wird das Buch richtig spannend: Wer bis hierher gedacht hat, von Verstand und erlernten moralischen Prinzipien gesteuert zu sein, lernt hier, wie es möglich ist, mittels Framing (Rahmungseffekt), Verwirrung, Konfusion, Double Binds („Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“, ehemalige Insassen toxischer Beziehungen kennen das nur zu gut), Projektionen und ständiger Wiederholung zu komplett anderen Ansichten gebracht zu werden und diese auch als völlig wahr und unangreifbar zu akzeptieren. In einem Umfeld, das einen komplett und sehr gekonnt manipuliert, ist es unmöglich, die eigenen Überzeugungen beizubehalten.
Abschnitt 6 beschäftigt sich mit der Manipulation der Medien. Fox News und andere rechtslastige, manipulative Medien bekommen hier ihr Fett weg. Wir hier in der Bundesrepublik Deutschland haben einen staatlichen Rundfunk, der die Pflicht zur kritischen Berichterstattung quasi per Grundgesetz in die Wiege gelegt bekommen hat, und dennoch wird auf eine sogenannte „Lügenpresse“ geschimpft; das Ausmaß der Manipulation, wie sie durch beispielsweise Fox News, Breitbart etc. in den USA stattfindet, kann man sich hierzulande nicht vorstellen. Kein Frühstücksprogramm hier kann sowas, den größten Hits der 80er, 90er und dem Besten von Heute zum Trotz.
Im Abschnitt 7 wird es dann richtig interessant: „The Influencers“ ist es überschrieben, aber hier geht es nicht um irgendwelche Youtuber und TikToker, die zum Erwerb und zur Anwendung irgendwelcher Hautpflegeprodukte aufrufen, sondern um wirklich mächtige und skrupellose Meinungsbeeinflusser: Putin, zuallererst, die christliche Rechte, „Die Familie“ mit ihren nationalen Gebetsfrühstücken (eine christlich-rechte Vereinigung, die ausspricht, dass die Lehre Jesu Christi nichts mit Liebe und Menschlichkeit, sondern allein mit Macht zu tun hat, und das auch praktiziert), die Neuapostolische Kirche, Opus Dei und andere rechts-katholische Bewegungen, die alternative Rechte (‚Alt-right“) sowie freiheitliche Rechte, die von der Philosophie von Ayn Rand geprägt sind werden hier kurz und bündig beschrieben, dass es den Lesenden Angst und Bange wird.
Im folgenden achten Abschnitt wird die Gefolgschaft von Trump weiter analysiert und den zuvor beschriebenen Gruppierungen zugeordnet: Es beginnt mit Trumps „Inner Circle“, also seinen engsten Vertrauten im Weißen Haus, die entweder entschieden für ihn sind oder entschieden von ihm fallengelassen werden. Die christliche Rechte, die zu 80% für Trump gestimmt hat, die neuapostolische Kirche, die Arbeiterklasse, die unter anderem von J.D. Vances „Hillbilly Elegy“ mitgerissen wurde: Verarmt, verlassen und vor allem von Hillary Clinton nicht verstanden, nicht zuletzt die GOP mit ihren Tea-Party-Aktivisten, die sich selbst zu einer Trump-Partei gewandelt haben, wie es (Meinung des hier Schreibenden) vermutlich nicht mal Ronald Reagan oder George W. Bush für möglich gehalten hätten, die jüdische Rechte, die „White Power“ schreiende „Alt-right“ mitsamt der „Q’Anon“-Bewegung und die NRA (National Rifle Association). Also alles, was wir Europäer an den USA nicht verstehen wollen oder schlicht nicht können. Dennoch sind die US-Amerikaner keine Bande von blöden Vollidioten, und das finde ich an Steven Hassans Buch total toll – er hetzt nicht gegen den Teil seiner amerikanischen Landsleute, die Trump unterstützen, sondern wirbt um Verständnis und erklärt, wie Bewusstseinskontrolle und Gehirnwäsche auch bei vermeintlich intelligenten und aufgeklärten Menschen wirken können.
Im vorletzten – neunten – Kapitel widmet sich Hassan der Techniken, die zur Überwindung der Bewusstseinskontrolle führen können. Hier zeigt er – in durchaus nachvollziehbaren Schritten dargestellt –, wie es gelingen kann, geliebte Menschen aus den Fängen der Bewusstseinskontrolle zu befreien, und beschreibt auch, wie genau das ihm selbst in den 70er Jahren gelungen ist, mit Hilfe seiner Familie. Dieser Abschnitt ist in meinen Augen der utopischste des ganzen Buches, da ich a) mir selbst niemals zutrauen würde, einen geliebten Menschen ohne fremde Hilfe aus den Fängen eines Kultes zu befreien, und b) die beschriebenen Schritte nur gelingenswert scheinen, wenn der zu Rettende selbst bereit ist, sie auch zu gehen. Und wer kann das im Voraus abschätzen? Aber Hassan wäre nicht Hassan, wenn er nicht wüsste, dass es im Ernstfall kompetente und zu allem bereite Helfende wie ihn selbst gäbe. Die Familie ist auf jeden Fall eine unschätzbar wichtige Hilfe, und psychologisch fundiert unterstützt kann sie hier wirklich Leben retten. Die Hilfe, die großartige Psychologen wie Hassan und Rohmann – unterstützt von Menschen, die entweder selbst von Kulten manipuliert wurden oder ihren Liebsten dort hinaus geholfen haben – den Betroffenen gegen haben, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Im letzten Kapitel – 10, „Die Zukunft“ – haut Hassan nochmal so richtig auf die Zwölf: Er stellt alles auf den Prüfstand, was wir so kennen – die mentale Gesundheit des Präsidenten soll mehr unter die Lupe genommen werden (angesichts der Machtfülle des US-Präsidenten eine berechtigte Forderung), das Rechtssystem solle das Augenmerk mehr auf den Tatbestand der unzulässigen Einflussnahme richten, die höchste aller Freiheiten, nämlich die verfassungsmäßige Garantie der Religionsfreiheit sollte dahingehen überdacht werden, dass „your right to swing your arms ends just where the other man’s nose begins“. Finde ich sehr gut!
Hassan weist außerdem darauf hin, dass der DSM-5 (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders, Fifth Edition) eine Bezeichnung für Opfer von Hirnwäsche und unzulässiger Einflussnahme durch Kulte enthält, die jedoch kaum angewendet wird.
Auch die Medien und das Internet kriegen in diesem letzten Kapitel nochmal ihr Fett weg: Was die Macht hat, zu helfen, hat auch die Macht, zu verletzen. Genau. Und ganz am Ende stellt Hassan nochmal die Frage, ob Trump mental geeignet ist, die amerikanische Nation anzuführen und vergleicht ihn einmal mehr mit Jim Jones. Und als Hassan das schrieb, hatte der Marsch aufs Kapitol noch nicht einmal stattgefunden.
Wenn ich jetzt dieses Buch nochmal für mich selber rekapituliere, denke ich: 1) Trump steht gegen Frau Harris schlechter da als 2016 gegen Frau Clinton. 2) Trump benimmt sich erratischer als je zuvor und das muss auch seinen damaligen Wählenden auffallen. 3) Wahlen werden nicht vernunftbasiert entschieden, dementsprechend ist alles möglich. 4) Das US-Wahlsystem führt nicht unbedingt dazu, dass die Mehrheit der Wähler über den Präsidenten entscheidet.
Das Buch ist wie gesagt aus dem Jahr 2019, aber aktueller denn je, und ich empfehle die Lektüre allen, die sich fragen, wie ein aus unserer Sicht merkwürdig anmutender Pleitier so viele Amerikaner auf seine Seite ziehen konnte und kann. Es ist außerdem ein Buch, das mit dem Mythos „Alle Amerikaner:innen sind dumm und scheiße“ aufräumt. Es sagt vielmehr: „Alle Menschen sind anfällig für Bewusstseinskontrolle“ und zeigt auf, wie man sich davor schützen kann. Und das können wir hierzulande auch sehr gut gebrauchen. Hoffen wir mal das Beste.