Von Matthias Bosenick (23.08.2024)
Meer ist wirklich ein schöner Name für eine Band, obschon diese hier aus Norwegen kommt, wo „Meer“ eigentlich „hav“ oder „sjø“ heißt, dann ist die Intention dahinter etwas unklar. Die Musik auf dem dritten Album „Wheels Within Wheels“ wiederum neigt dazu, die Hörenden zu überschwemmen: Orchester-Pop, Bombast, Opulenz, Expressivität, allergrößte Emotionen, im Grunde Kitsch – und auch noch wider besseren Kategorisierens einsortiert im Prog-Rock-Fach. Auf diesem Album bekommt man von allem zu viel, außer von Ruhe und Entspannung. In den wenigen stilleren Sequenzen kommen die Finessen des Oktetts wesentlich besser zum Ausdruck, und doch dominiert eine niederschmetternde Kirchentags-Erbaulichkeit. Da passt die Rückübersetzung: Norwegisch „meer“ (eigentlich „flere“) heißt auf Deutsch einfach „mehr“. Dabei wäre „for mye“ treffender gewesen: „zu viel“.
Die Basis dieses Oktetts sind die Geschwister Johanne Margrethe Kippersund Nesdal und Knut Kippersund Nesdal, die offenbar auch den Hauptteil des Gesangs übernehmen. Daher mag beim Auflegen des Albums in „Chains Of Changes“ zunächst der Eindruck von Abba entstehen, nämlich wegen des harmonischen Gemischtgesangs, der hier jedoch einen amerikanischen Polka-Rhythmus begleitet. An anderer Stelle denkt man wegen des Gesangs vielmehr an Achtziger-Pop wie Nu Shooz oder Boy Meets Girl, in „Behave“ singt Knut leicht wie David Byrne von den Talking Heads, in „Today Tonight Tomorrow“ und „Mother“, zwei Balladen, eher wie Morten Harket von a-ha, und Johanne erinnert in „Come To Light“ gesanglich an Nuller-Radio-R’n’B. Wenn es ganz deftig kommt, setzen gleich ganze Chöre ein und motivieren zu Ooh-ooh-ooh-Mitmach-Chants und die Hauptsingenden fallen darüber ins Geschrei, so im finalen Song mit dem programmatischen Titel „This Is The End“, der sein erlösendes Versprechen indes auf neun Minuten streckt.
Der ganze Sound erinnert an Kirchenmusik, an moderne Sakralkompositionen, an Kirchentag und Heilsversprechen, so dass es paradox wirkt, dass man die mit solcherlei einhergehende Erlösung eher von der Musik selbst erhofft. Die ist nämlich echt mal viel zu fett. Streicher, Chöre, Synthies, Kirchenorgel, Flöte, Vibraphon, Piano, galoppierende Energie wie bei so Folk-Poprock-Bands wie sagen wir Mumford & Sons, mit einem Wort: Kitsch. Wenn die Verantwortlichen hier mit dem Etikett Prog-Rock wedeln und man das Album dazu hört, fragt man sich, wie sie auf diese Ideen kommen, denn von Rock kann hier keine Rede sein. In „Take Me To The River“, das nichts mit dem gleichnamigen bekannten Song zu tun hat, setzt gegen Ende mal eine Gitarre ein, die sich sogleich der allgemeinen Opulenz unterordnet, mehr Rock bekommt man hier kaum.
Vielleicht Prog, weil ja manche Kompositionen etwas ungerade und schachtelig sind, aber das ist auch in Kirchenmusik nicht so unüblich, man horche mal Bach, da kommt man auch nicht auf die Idee, da von Prog zu sprechen. Eher mal sind Meer so Neo-Klassik oder Minimal, wenn die repetitiven Melodien an die von Philip Glass erinnern etwa. Es gibt besinnlichere Passagen auf dem Album, und da funktioniert diese orchestrale Melange auch ganz gut, die genannten „Behave“ oder „Mother“ etwa haben mehr Ausdruck in der Ruhe, und so verfährt die Band auch immer wieder mal zwischendurch. Anders als vermutlich intendiert haben die weniger expressiven Stellen wesentlich mehr Ausdruck, kommen nur viel zu kurz. Eine Stunde dauert das Album und nach Verklingen des letzten Tons möchte man duschen.
2012 starteten die Geschwister Nesdal als Ted Glen Extended mit einer gleichnamigen EP, das selbstbetitelte Debüt-Album erschien dann 2016 bereits als achtköpfiges Meer. Der Nachfolger „Playing House“ setzte 2020 die Richtung fort, die das Orchester heute mit „Wheels Within Wheels“ auf die Spitze treibt. Introvertierte Hörende könnten hier eher unter die Räder kommen.