Von Guido Dörheide (29.07.2024)
Nur ein Jahr nach „Rio und die mörderischen Bilder“ legt Helmut Exner mit „Tammo. Wunderkind wider Willen“ den 21. Band seiner Lilly-Höschen-Reihe vor. Die Heldin (immer noch so ausgesprochen, wie man es schreibt, nicht wie Unterbüx), eine pensionierte Lehrerin aus Lautenthal, dürfte inzwischen 91 Jahre alt sein und wohnt immer noch mit ihrer einige Jahre jüngeren Freundin Gretel Kuhfuß zusammen. Zusammen sind sie quasi sowas wie die Miss Marple und der Doktor Watson des Oberharzes und helfen der Polizei (Hauptkommissar Rabe – „Specht, wenn ich bitten darf, äh Quatsch, jetzt vergesse ich schon meinen eigenen Namen, Sperling heiße ich.“ – und seine zahlreichen Mitstreiterinnen mit den ebenfalls klangvollen Namen Huhn, Frosch usw.) bei der Aufklärung von Verbrechen, in die sie, oft durch unbeabsichtigtes Tun von Lillys ehemaligen Schüler:innen, stets zufällig hineinschlittern.
So auch hier: Tammo Schuh, ein hochintelligenter Junge aus Clausthal-Zellerfeld, schreibt ein Referat über das Schicksal jüdischer Familien während des 3. Reichs im Harz und wird dadurch in Geschehnisse verstrickt, die ihn noch bis ins Erwachsenenalter verfolgen und sein Leben dadurch mit dem von Frau Höschen und Frau Kuhfuß verwickeln.
Im ersten Teil des Romans jagt Helmut Exner nicht unbedingt im Schweinsgalopp, aber doch recht zügig durch Tammos Kindheit und Jugend: Besagtes Referat, die Schulzeit in Anwesenheit von der damals noch beruflich aktiven Lilly Höschen, die erste Romanze mit einer älteren Klassenkameradin (Tammo hat insgesamt zwei Klassenstufen übersprungen und ist dadurch immer der Jüngste), die erfolgreiche Suche nach seinem von der Mutter aus Gründen verschwiegenem Vater, die Freundschaft mit dem später noch eine wichtige Rolle spielenden Sven-Torben Bierwirt inklusive. Hatte ich schon erwähnt, dass Exner ein Händchen für die Auswahl blumiger Nachnamen hat? Später taucht dann auch noch eine Beata Schneemann/Schneegans auf, über deren Rolle ich hier aber aus Gründen der Spannungserhaltung nichts verraten möchte.
„Tammo“ ist eine Geschichte über einen frühreifen Jungen, über das Erwachsenwerden im Oberharz, über Freundschaften, über Schuld, die man erbt und der man sich entweder stellen kann oder auch nicht, und nicht zuletzt eine Geschichte über liebenswerte und skurrile Persönlichkeiten, die den Lesenden schnell ans Herz wachsen. Sehr gefreut habe ich mich für Gretel Kuhfuß, die in der Vergangenheit von ihrer besten Freundin Lilly viel einstecken musste, wenn auch auf liebevolle Art und Weise, weil sie sich hier dahingehend emanzipiert, dass sie nicht nur – wie gewohnt – Lillys permanente Verbalinjurien schlagfertig pariert, sondern auch schlagkräftig den Bösen mit Schmackes in die Fresse haut und damit maßgeblich zur Aufklärung des Falls beiträgt.
Besser als bei den bisher von mir gelesenen Exner-Romanen gefallen mir hier die Dialoge. Sie dienen nicht nur zur Transportation von Wortwitz, sondern treiben auch den Inhalt munter voran. In diesem Zusammenhang gefällt mir besonders gut die 16jährige Lucy mit ihrer bildhaften Sprache. Wenn sie loslegt, kann man sich bildhaft den Autor als Jugendlichen vorstellen.
Und auch erzähltechnisch finde ich „Tammo“ bemerkenswert: Helmut Exner arbeitet nicht mit dem einen großen Spannungsbogen, der bis zum Ende der Geschichte hält, sondern mit vielen kleinen Irreführungen der Lesenden und Rätseln, die sich immer wieder schon im Laufe der nächsten Kapitel aufklären und dennoch immer genügend viele Fragen offenlassen, was dazu führt, dass man das Buch erst aus der Hand legen kann, nachdem man es durchgelesen hat. Es gibt einige Tote und auch sehr üble Kapitalverbrechen, die man angesichts des vielen Humors und der lockeren Erzählweise nicht vermuten würde. Diese werden unaufgeregt abgehandelt und dabei weder verharmlost noch ins Lächerliche gezogen. Sehr ernste (vgl. oben Tammos Referatsthema) und humorvolle Elemente gehen Hand in Hand und werden zu einer wundervollen Geschichte verwoben, die zu lesen Spaß macht und die dennoch Raum zum über sie Nachdenken lässt.
Neben der Kernhandlung des Krimis findet Helmut Exner auf den gut 170 Seiten immer wieder Zeit für überaus charmante Nebenhandlungen: Da ist zum Einen die Liebesgeschichte zwischen Tammos Mutter und ihrem neuen Freund, die total süß erzählt wird (hervorzuheben ist hier beispielsweise die Szene, in der der neue Stiefvater bei Tammo um die Hand von dessen Mutter anhält) und zum Anderen Tammos häufige Besuche bei Pieter, dem Meisterkoch, in dessen Restaurant der 13jährige Tammo oft aushilft und dabei Kochkünste gelernt kriegt, die Pieters Restaurant in dessen Abwesenheit zum lange verdienten ersten Stern verhelfen (sorry für den Spoiler, aber Tammo und Pieter beim Kochen über die Schulter zu schauen, macht echt hungrig und reißt mit).
Der einzige Wermutstropfen ist, dass sich „Tammo“ so wahnsinnig schnell durchliest. Zum Glück schreibt Helmut Exner nicht nur Harzkrimis, sondern verlegt auch ab und an welche, und auf www.harzkrimis.de findet man sie alle schnell wieder. Es lohnt sich, immer mal wieder in den Harz reinzuschauen, nicht nur, aber auch aus kriminalistischen Erwägungen heraus.