Alexander Kühne (Hg.) – Der Jugendclub Extrem – Verlag Kettler 2024

Von Matthias Bosenick (22.07.2024)

Eigentlich vielmehr ein bebilderter Erinnerungsband für Dabeigewesene, das Dokument eines eskapistischen Abenteuers, ist „Der Jugendclub Extrem“ vielmehr zu einem Geschichtsbuch geworden, an dem auch Interessierte Freude und Erkenntnisgewinn ziehen können, die es nicht zwischen 1984 und 1994 nach Lugau in der Niederlausitz schafften – geschweige denn, in der DDR aufwuchsen und somit überhaupt Gelegenheit für den Clubbesuch hatten. Grundlage für dieses dicke Buch bilden Fotos, die Henri Manigk und Frank Kiesewetter vom Clubleben machten, ergänzend sammelte Herausgeber und Clubmitgründer Alexander Kühne Berichte und Interviews von Machern, Muszierenden und Gästen des Indie-Clubs mit seiner nicht nur für DDR-Verhältnisse ungewöhnlichen Geschichte.

Lugau, 500 Einwohner, Ortsteil von Doberlug-Kirchhain, Niederlausitz, heute Elbe-Elster-Kreis, im Wegkreuz Berlin-Dresden und Leipzig-Cottbus, Braunkohle hier, Spreewald dort, abseits von allem und doch ein Zentrum, zumindest zehn Jahre lang, von 1984 bis 1994, als eine Gruppe von Leuten um Alexander Kühne den Jugendclub Extrem gründete, um dort Bands spielen zu lassen, die im repressiven System der DDR mit Missbilligung bis Drangsalierung leben mussten, um dort Partys zu feiern, bei denen im Radio mitgeschnittene Westmusik lief, um dort eine Freiheit auszuleben, die es in der DDR gar nicht geben durfte und die trotzdem rätselhafterweise geduldet war. In dem Club sammelten sich sämtliche Subkulturen, von Punk bis Pop, von Gruft bis Techno, von Rockabilly bis Stino; jener Begriff ist so veraltet, dass man sich wundert, dass er hier ohne Decodierung Verwendung findet. Ausgrenzungen gab es also keine, bis auf Nazis selbstredend, und Blues-Macker, die waren offenbar das einzige Feindbild damals.

Folgt man den vorliegenden Berichten, erscheint auch der Sozialismus nicht als das übergroße Monster, das er war. Hier wirken DDR-Staatsmacht und Vopos eher wie lästige Plagegeister, dem man auszuweichen hatte, indem man erforderliches Regularium schulterzuckend einhielt und ansonsten Anarchie walten ließ. Man fand immer Wege und Schlupflöcher und lachte über Polizeiberichte und Stasi-Akten. Solche Stöcke zwischen den Beinen empfanden die Macher offenbar als derartige Nebensächlichkeiten, dass sie sie im Buch eher beiläufig abtun; das erschwert etwas das Verständnis, weil man an sich schwerwiegende, existentielle Ereignisse den Abdrucken offizieller Dokumente oder den Bildunterschriften entnehmen muss und die Berichte anschließend lediglich darauf Bezug nehmen, man also sehr aufmerksam mitlesen muss, sofern man nicht dabei war und die Geschichte sowieso im Herzen trägt. Aber es ist möglich, alles zu verstehen, und diese Form unterstreicht nur die respektlose Haltung dem Staat gegenüber und freut die Lesenden, die selbst stets den Stinkefinger gegenüber Willkürherrschaften bei sich tragen.

Was die Beteiligten nicht alles zu erdulden hatten! Einiges Grundsätzliches weiß man aus vielen vergleichbaren Berichten, sofern man es nicht selbst erlebte. Überwachung, Auftrittsverbote, Zensur, Kontrollen; Privatmenschen hatten schon Schwierigkeiten, unangepasste Kunstschaffende noch umso mehr. Literatur dazu findet man zum Beispiel in „Kein Land in Sicht“ der Herausgeber Michael Kleff und Hans-Georg Wenzel sowie in den beiden Bänden „Ich liebe Musik“ von Herausgeber Jörg Hiecke. Was man als Westdeutscher erst lernen musste, war, dass ein Vergnügen auch im grauen Alltag des Sozialismus möglich war, und in „Der Jugendclub Extrem“ bekommt man viele zusätzliche und für Unbeteiligte sicherlich auch neue Aspekte dieses Sachverhalts erzählt. Ebenso vom Wandel der Umstände mit dem Mauerfall, als Verbotenes plötzlich möglich war – und man sich abrupt auch den Nachteilen des neuen Systems ausgesetzt sah, denen des Kapitalismus‘ nämlich. Waren die Aktivitäten des Clubs anfangs noch ein Aufbäumen gegen den DDR-Alltag, war es nach 1989 eines gegen die Zwänge des Geldes.

Und was die Beteiligten andererseits aber auch alles erlebten! Nicht ausschließlich vereinzelten lokalen Widerstand, sondern sehr viel Zusammenhalt. Diverse Location- und Ortswechsel. Kreative Erweiterungen. Die krassesten Bands traten auf, nicht nur die vom Staat offiziell geduldeten und so genannten „anderen“; im Anhang findet sich eine Auswahl-Liste, darunter so für Außenstehende, sicherlich trotz DT64-Sozialisation selbst aus der DDR, obskure Namen wie Müller Beat, die hier auch zu Wort kommen und die Peter Richter in seinem Roman „89/90“ indes ebenfalls erwähnt, oder WK 13, zu denen es im Buch einen QR-Code mit Youtube-Link gibt. Heimlich eingeschmuggelte westdeutsche Bands waren eine Seltenheit, hingegen brachen 1989 die Dämme und die Liste der auftretenden Acts wurde nur umso beeindruckender; hier kommen etwa Alexander Hacke und Bela B. zu Wort. Wer bei der Geschichte um The Wedding Present keine Tränen verliert, sollte seine Leidenschaft einer grundsätzlichen Überprüfung unterziehen.

Kern des Buches sind natürlich die Fotos, die Frank Kiesewetter und Clubmitglied Henri Manigk in den zehn Jahren mit ihrer Praktica anfertigten. In Schwarzweiß zumeist, aus ästhetischen Gründen, nur wenige Fotos entstanden in Farbe. Aus über 4000 Bildern suchten sie rund 200 für dieses Buch aus. Zu sehen sind Auftritte von Bands, Übersichten und Details vom Publikum, Dokumentationen von anderen Aktionen wie Modenschauen und Partys, Bilder aus dem Alltag. Manche Parallele zur eigenen Jugend im Westen lassen sich ausmachen, sobald der Fokus auf der Subkultur liegt und die Räume dunkel und schummerig sind, was für Außenstehende den Bezug erleichtert und dann reichlich Raum für die Wahrnehmung der Unterschiede bereithält. Der Protest des Extrem-Universums gegen das System DDR ist nachhaltig spürbar, auch ohne dass er explizit geäußert werden musste. Der Wunsch nach Leben springt die Lesenden aus allen Seiten an – und der Wunsch nach Vertiefung außerdem. Als nächstes kommt der Roman zum Thema auf die Wunschliste, „Düsterbusch City Lights“ und die Fortsetzung „Kummer im Westen“ von Alexander Kühne. Und der „Parocktikum“-Sampler. Und das Amiga-Kleeblatt über „Die anderen Bands“. Und die DVD „Schleimkeim – Otze und die DDR von unten“. Und „flüstern & SCHREIEN“. Und …

Das Buch mit seinem spektakulär ungewöhnlichen Einband eignet sich übrigens bestens als Geschenk, empfiehlt der dankbare Empfänger.

Die Ausstellung zum Jugendclub Extrem im Museum Schloss Doberlug läuft noch bis zum 7. Oktober 2024.